02 Die Kinder der Rothschildallee
Gedicht noch einmal gesungen, bei der Wiederholung ihre Darbietung am Flügel mit einer ohrenbetäubenden Collage aus Jazzrhythmen und moderner Tanzmusik begleitend. Die Klangorgie war eine erstaunlich geschickt zusammengestellte und hochaktuelle Mischung aus Shimmy, Charleston und Blues. Die verstörten Eltern hielten sich an den Händen und bemerkten nicht, dass sie ihre ergrauten Köpfe im Takt zur Musik schüttelten.
Bei der dritten Wiederholung – Alice warf gerade zu der triumphierenden Gedichtzeile »Frühling, ja du bist’s« ihre Beine wie ein Girl vom Varieté in die Höhe – verlor der Vater endgültig die Contenance und stampfte auf den blauen Teppich mit dem radschlagenden Pfau und den zierlichen Hirschkühen. Er benutzte dazu ausgerechnet seinen schmerzenden Fuß, verzog im Schmerz sein Gesicht und humpelte in Richtung Toilette davon. Die Türklinke schon in der Hand, rief er angeekelt: »Negermusik.«
Seine Frau sah das Problem differenzierter, vor allem mit dem gewohnten Scharfblick einer Mutter, die bei jedem Kind, das sie zur Welt bringt, das natürliche Talent einer Frau, sich nicht hinters Licht führen zu lassen, um ein Stück weiterentwickelt. Die musikalische Collage hatte ihr nämlich klargemacht, dass ihre Jüngste von dem Freiheitswillen durchdrungen war, der bereits ihre Geschwister zu früh ins Leben gelockt hatte. Madame Sternberg mit den ehernen Prinzipien bezweifelte keinen Augenblick, dass Alice mehr Zeit im Kino als mit ihren Schulaufgaben verbrachte. Betsy las immer wieder – und sie wusste dies auch von anderen Müttern –, dass sich sogar zehnjährige Kinder in die Kinos schmuggelten, ohne dass die Filmvorführer oder die Platzanweiserinnen einschritten.
Es war durchaus Brauch geworden, dass sich kleine Mädchen aus guter Familie haarsträubende Filme anschauten, während ihre ahnungslosen Mütter sie friedlich schaukelnd auf dem Spielplatz wähnten. Laut den Berichten, die Betsy erreichten, wurden in den meisten Frankfurter Kinos schockierende Machwerke gezeigt. Männer mit viel Pomade im Haar hielten sich mit gleicher Selbstverständlichkeit Mätressen und Liebessklavinnen wie Jäger Hunde und Bäuerinnen Hühner. Filmschauspielerinnen, wie soeben die berühmte Pola Negri in »Hotel Stadt Lemberg«, gaben sich für die Rollen von unmoralischen, männerverderbenden Vamps her. In Madame Betsys Sprachgebrauch waren sie alle »schamlose Frauenzimmer« und »durchtriebene Luder«.
»Schluss«, brüllte sie die Tochter an, die nach dem Angriff des Vaters stumm und starr am Flügel stand, »mir reicht das ganze Theater. Aber gründlich.« Da sie immer noch an die Vamps und Kokotten der Leinwand dachte, schrie sie mit sich überschlagender Stimme: »In meinem Haus gibt es das nicht. Merk dir das ein für alle Mal, mein Fräulein, das hier ist kein Bordell. Dafür hat dein tapferer Bruder sein Leben nicht hergegeben.«
Alice war es gewohnt, die Vorwürfe nicht zu verstehen, die ihre Eltern ihr machten. Sie war keine Grüblerin und hatte nicht das Bedürfnis, die Geheimnisse der Welt zu enträtseln. Selbst im Moment ihrer künstlerischen Niederlage forschte sie nicht nach der Ursache für die mütterliche Empörung und den väterlichen Zorn. Sie hatte kein Vertrauen in das Gerechtigkeitsbewusstsein ihrer Eltern, und meistens scheute sie die Mühe, sich zu verteidigen. Das gescholtene Kind lächelte artig, deutete einen Knicks an, was in der Schule bei kleinen Sünden Wunder zu bewirken vermochte, und ging leise in ihr Zimmer. Als Beweis, dass sie vorhatte, sich umgehend dem Ernst des Lebens zuzuwenden, zählte sie laut und deutlich jedes Stück auf, das sie in ihre Schultasche packte. Allerdings unterließ es die kleine Diplomatin mit dem sicheren Instinkt für das komplizierte Seelenleben der Erwachsenen, eine brandneue Postkartensammlung von beliebten Filmdarstellerinnen zu erwähnen. Sie hatte die kostbare Trophäe erst zwei Tage zuvor mit dem Geld erworben, das ihr Josepha zugesteckt hatte, nachdem sie wegen einer verlorenen Mütze von ihren Eltern vor dem 1. April keine geldliche Zuwendungen mehr zu erwarten hatte.
In Alice’ neuester Kinokollektion war eine von ihren Mitschülerinnen heiß begehrte Postkarte. Zu sehen war die schöne schwedische Schauspielerin Greta Garbo, deren Karriere in Deutschland mit dem Film »Die freudlose Gasse« angefangen hatte und die soeben in Hollywood in einen Film mit dem verheißungsvollen Titel »Love« die Anna Karenina spielte. Die
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