02 Die Kinder der Rothschildallee
Taschengeld, Klavierstunden und Aufgabenheft vorgekommen. Seitdem ließ Mademoiselle Sternberg jeden wissen, der bereit war, ihr länger als fünf Minuten zuzuhören, dass sie »Shakespeare doch für reichlich antiquiert und seine sämtlichen Komödien für allzu durchsichtige Kunstgebilde« hielt.
War sie in Stimmung, rezitierte sie ein Gedicht von Kurt Tucholsky, das sie in der »Weltbühne« gefunden und »für alle Fälle« auswendig gelernt hatte. Im Eisenbahncoupé, in dem der geflügelte Liebesgott das große Wort führte, fiel Victoria auf, dass der Rhythmus des Gedichts zu dem des rüttelnden Zugs passte. Erst recht zu dem Vibrieren ihres aufgeregt schlagenden Herzens. Sie lehnte sich zaghaft an die ihr noch fremde Heldenbrust, war einen Moment irritiert, weil ihr der Anfang des Gedichts abhandengekommen war, und begann dann, deutlich artikulierend, mit dem Ende:
»Elfen nebbich schweben –
auf dem Pfad, wo Mondschein geht –
weil das so bei Richard Wagner steht …
Und während Poesie die Luft durchzieht,
singt die kleine Elfe leis ihr Lied.«
Die Vortragende seufzte leise, ehe sie die Augen schloss und die kühle Männerhand an ihre heiße Stirn führte.
»Du bringst ja einen Mann um das bisschen Verstand, das er hat«, beschwerte sich Wladi. Er knabberte zärtlich an dem wertvollen Perlenohrring, der einst Tante Jettchen gehört hatte, und kräftig am schönen Schwanenhals von ihrer Großnichte. Sein Atem war sommerwarm und verlockend.
Ein betäubender Duft von Patschuli entströmte seinem nachtschwarzen Haar. Der schicke rote Hut vom Frankfurter Merianplatz geriet ins Rutschen und landete, weil der Reisegenosse sein Tempo noch vor dem Zug beschleunigte, auf dem Boden. Victoria streckte ihren Arm aus, der beherzte Dompteur griff nach ihrer Hand. »Lass ihn, so ein Hut braucht auch seine Freiheit«, bestimmte er. Sie lächelte und war wieder das niedliche kleine Vickylein, dem Tante Jettchen keine Bitte abschlagen konnte. Ihr Herz trompetete Erregung, der Rock rutschte nach oben, als der Meister der Verführung die Initiative ergriff. Er tippte eine feine Melodie auf das wohlgeformte Knie.
»Ich kann noch mehr«, versprach er.
»Warte«, flüsterte Victoria, »warte noch ein Weilchen.«
»Dann steht die Welt in Veilchen«, summte er. Sie lachten beide, weil sie dachten, sie wären füreinander geschaffen.
Wladimir Bellini, der Eisenbahntunnel und Unschuldsengel gleichermaßen schätzte, war ein Freund der Frauen. Er tat mit Freude, wovon die, die im Schatten standen, noch nicht einmal träumten. Ob er am Sonntagnachmittag für ein Dienstmädchen Gänseblümchen vom Rasen der Besitzenden stibitzte oder einer Herzkönigin mit schwarzer Unterwäsche die Sterne vom Himmel holte, in Wladis Armen erblühte Frauenseligkeit. Wenn er ihnen mit heiserer Stimme Treue schwor, glaubten die jungen Mädchen an Wunder, und sie glaubten auch, dass keine je so geliebt worden war wie sie. Frauen, die der Blick in den Spiegel ängstigte, weil sie nicht vergessen konnten, wie sie in ihrer Jugend ausgesehen hatten, wussten nichts mehr vom Alter, sobald sie den Druck von Wladis Lippen auf den ihren spürten. Alles an diesem forschen Fabulierer, der Liebe für Männerpflicht hielt, schien perfekt. »Selbst sein falsches Getue«, hatte einmal ein Neider befunden.
Es gab deren nur wenige. Wladi war ein besonderer Mann. Er sah so gut aus und war so spontan, frisch, keck und natürlich, dass ihm die Herzen zuflogen. Er war ein Magier, der an grauen Tagen goldene Wolken ins Gemüt zauberte. Die hübschen Frankfurter Theatereleven, die er poussierte, nahmen jede Schmeichelei, die er ihnen ins Ohr flüsterte, für bare Münze. Die Bauersfrauen aus dem Odenwald, die ihr Obst zum Großmarkt brachten, dachten weder an Spargel noch an den jätenden Ehemann zu Hause, wenn er vor ihnen stand. Der Tochter vom Kolonialwarenhändler Schimke, bei der Wladi samstags eine Gewürzgurke aus dem Fass und einen eingelegten Hering holte, stellte er eine Verlobung in Aussicht. Und für Frau Trudchen Schafgut, die Schneidersgattin, war Wladimir Bellini mit der starken Brust und den flotten Tanzbeinen der wunderbarste Mann der Welt.
Wer ihn sah, zweifelte nicht, dass die Götter Großes mit ihm vorhatten und dass Fortuna ihr Glückshorn eigens für ihn gefüllt hielt. Victoria blickte aus einem Eisenbahnfenster in die Zukunft und war keinen Deut überrascht, als sie Fräulein Sternberg und Herrn Bellini das Aufgebot bestellen sah. Nach dem
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