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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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dritten Kuss im Tunnel stellte sie sich vor, in der Rothschildallee 9, im vierten Stock, gegenüber der Wohnung ihrer Schwester Clara, würde die hübsche Zweizimmerwohnung mit dem Ausblick auf die Martin-Luther-Straße frei werden und die würde Vickys gütiger Vati mit seinem herzerwärmenden Verständnis für junge Leute dem glücklichen Hochzeitspaar überlassen.
    »Du bist so still«, sagte Wladi. Er nahm den träumenden Kopf in beide Hände. »Woran denkst du?«
    »Ach, an nichts«, sagte Victoria. Noch wusste sie nicht, dass diese drei Worte seit Adams Zeiten vom Manne zu sprechen sind.
    »Du bist so schön, wenn du an nichts denkst.«
    Der Schmeichler, der zeit seines Lebens Übertreibung mit Witz verwechseln sollte, stammte aus Hopfgarten, einem winzigen Dorf in Thüringen. Bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er Erfurt für die bedeutendste Stadt der Welt gehalten. Seine Mutter hatte er als eine Walküre mit Haar, schwarz wie das von Schneewittchen, in Erinnerung, den Vater als einen weißblonden Hünen mit Händen, groß wie Schaufeln. Die Haarfarbe und die Figur der fruchtbaren Mutter, die sechs Kinder geboren hatte, entsprachen der Wirklichkeit. Beim Vater handelte es sich um eine – verständliche – Verwechslung. Als Wladis Erzeuger kamen nämlich drei stramme Burschen infrage; bei seiner Geburt hatten alle drei vor dem Amtsmann glaubhaft geschworen, sie hätten mit der »Kindesmutter regelmäßig Verkehr« gehabt. Weißblond war der Scherenschleifer gewesen, der jedes halbe Jahr nach Hopfgarten kam. Wahrscheinlich war er der Vater von Wladis Schwester Erika. Ihre heranwachsenden Brüder jedenfalls versorgte er mit scharfen Messern, die der Neid der Dorfjugend waren.
    Wladi hatte hochstehende Wangenknochen und tief liegende Augen, aus denen er als kleiner Junge so melancholisch geblickt hatte, als würde ihm die Welt noch keinen Teller warme Grütze gönnen. Später erwiesen sich die Augen und die markanten Wangenknochen als Volltreffer, um die Mär von den wilden slawischen Vorfahren zu erhärten. Sobald dem jungen Mann bewusst wurde, dass die Erschaffung des Weibes einer von Gottes reizvollsten Einfällen gewesen war, zeigte er lieber beim Lachen seine gesunden Zähne, als dass er in die Traurigkeit versank, die ungewollte Kinder ein Leben lang begleitet.
    Sein Haar war ungewöhnlich dicht; es glänzte auch ohne Pomade und kringelte sich nach dem Waschen zu Locken. Wladi schrieb die schwarze Lockenpracht dem erfundenen Großvater aus Pisa zu. Sein Lächeln bezauberte selbst alte Männer, die mit ihrem Krückstock Jagd auf streunende Katzen und lebensfrohe Buben machten, ebenso junge Arbeitslose und die müden Kriegsversehrten auf den Parkbänken. Kinder liebten Wladi; wenn er mit ihnen spielte, war er ein gutmütig brummender Bär, der die Riesen, die Kinder ängstigten, das Fürchten lehrte. Hausfrauen, die ihm nachschauten, wenn sie die Betten zum Lüften in die offenen Fenster legten, tänzelten in ihren Filzschlappen und streichelten versonnen ihre Federkissen. Der Lebenskünstler wusste um seine Wirkung auf Menschen. Er flanierte in den gut sitzenden Anzügen vom Schneidermeister Schafgut an den Geschäften auf der Kaiserstraße vorbei und begrüßte in jeder Schaufensterscheibe sein Spiegelbild mit einem Lächeln. Sobald er sich sah, hatte er das Bedürfnis, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, doch zuweilen dankte er auch seinem Schöpfer, dass der ein so wunderbares Mannsbild geschaffen hatte. Nachts in seiner Schlafkammer verwöhnten ihn die wunderbarsten Zukunftsträume. Wladi sah sein Bild von den Mauern der Kinopaläste strahlen, zu seiner Linken die reizvoll spröde Brigitte Helm, zur Rechten die rassige Lil Dagover, die ihm nach dem Film »Der müde Tod« nächtelang den Schlaf geraubt hatte.
    Die Frau, deren zierliche Füße gerade auf Wladis Schoß gekost wurden, hatte mehr Schwierigkeiten, sich ihre Zukunft vorzustellen. Victoria erlebte seit einiger Zeit, dass ihre Schulfreundinnen genau wussten, was sie wollten, und dass sie auch taten, was sie sich vornahmen. Sie aber, die früher als alle gewusst hatte, wohin es sie zog, sah seit dem Darmstädter Erlebnis die Fackeln ihres Ruhmes nicht mehr hell genug leuchten. Sonnenklar war ihr hingegen, dass ihre Eltern Nacht für Nacht beteten, die schönste ihrer Töchter möge ihnen einen vermögenden, in die Familie passenden Schwiegersohn aus gutem jüdischem Haus und von guter Gesundheit präsentieren – möglichst mit

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