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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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wie ein blinder Passagier zu verhalten, der erst in das Schiffslager einbrechen muss, um an einen Zwieback zu kommen. Ihr eigener Hunger trieb die Liebenden trotz der Eclairs im Zug und eines drohenden Sommergewitters aus dem Haus.
    Wladi entdeckte einen Gasthof, den Victoria nie für einen solchen gehalten hätte. Die Gäste waren vorwiegend Männer mit rot glänzendem Gesicht und kraftvollen Stimmen. Die meisten musterten Victoria mit einer Gründlichkeit, die sie ängstigte. »Ich glaube, ich sollte mich morgen bei meinem Bruder melden«, sagte sie.
    Wladi stellte sein Bierglas auf den Tisch – es war das zweite in einer halben Stunde – und sagte, sie solle zusehen, dass sie etwas bestellte, was satt mache. »Du hast schließlich noch was vor, mein kleines Mäuschen.«
    Ihr war es, als hätte er gezwinkert, doch sie traute sich nicht, über ihre Beobachtung zu sprechen, und schon gar nicht wagte sie die Frage, weshalb die schöne leichte Stimmung vom Zug verflogen war. Er bestellte, weil sie zu lange brauchte, um sich zu entscheiden, für beide Eisbein mit Erbspüree. Er verhandelte mit dem Kellner auf eine so männliche, selbstsichere und auch dominante Art, dass Victoria nicht dazu kam, Wladi beizeiten aufzuklären. Erbsen verabscheute sie, einem Eisbein war sie nie in ihrem Leben begegnet. Sie starrte es erst unglücklich und dann verzweifelt an. Sie fragte sich, ob sie nicht vorher Clara um Rat hätte fragen sollen. Wie klärte eine verliebte Frau den Mann ihres Herzens über jüdische Speisegesetze auf, ohne dass er Schaden nahm? »Ich kann nicht«, würgte sie, »ich weiß nicht, warum. Ich habe einfach keinen Hunger.«
    Wladi grinste, obwohl er keine Ahnung hatte, weshalb er das tat. Er aß das zweite Eisbein und bestellte das dritte Bier. Sie beobachtete, wie das Fett auf sein Hemd tropfte, und betete, obgleich sie noch keine begangen, Gott möge ihr alle Sünden verzeihen.
    Victoria Sternberg, die gedacht hatte, sie wüsste alles, was eine junge Frau zu wissen hatte, und sie wüsste es besser als jede andere, erlebte die körperliche Liebe als Vergewaltigung. Der Schock war noch größer als der Schmerz, die Scham lähmend. Zerrissen war nicht nur das weiße Seidennachthemd, das sie für die Nacht der Nächte gekauft hatte. Dahin war, und das begriff Victoria unmittelbar nach dem Geschehen, die Jungfräulichkeit, auf die in bürgerlichen Kreisen die Männer ebenso viel Wert legten wie auf eine hohe Mitgift und auf eheliche Treue. Zerstört für immer war der Glaube, dass der Instinkt eine Frau davor bewahrt, sich in den falschen Mann zu verlieben. Victoria, das zerrissene Nachthemd auf dem Boden, die liebemordende Bemerkung des Eroberers noch im Ohr, schluchzte in ein bretthartes Kissen und war sicher, dass sie nie mehr in ihr Vaterhaus zurückkehren würde.
    »Hast du gedacht, das Ding ist zum Kaffeekochen?«, hatte er gebrüllt und sich das genommen, was er für das Recht des Mannes hielt. Nach dem Kampf wurde er wieder freundlich. Seine Hände wurden weich, die Stimme leise. »Musst nicht weinen«, tröstete er, »das ist halt so bei euch Mädels. Bei jeder.«
    In der Nacht wachte Wladi auf. Die zwei Portionen Eisbein drückten ihn im Magen. Später sah er Gespenster, hörte eine Kirchenglocke schlagen, dann eine zweite. Ihm fiel eine Geschichte ein, an die er seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Klaus-Jürgen Hammer aus Hopfgarten, zwei Jahre älter als Wladi und eine Respektsperson im Dorf, hatte in der Scheune vom Bauer Münstermann fünf staunenden Freunden von einem Juden aus Erfurt erzählt. Dessen Tochter war von einem Küster geschwängert worden, und der zürnende Vater hatte furchtbare Rache genommen. Er hatte den frommen Kirchenmann von einem einäugigen Häscher meucheln und ihn in einen Hochofen werfen lassen. Der Mörder selbst hatte Klaus-Jürgen Hammer die Tat gebeichtet. An einem Karfreitag.
    Wladis Magen grollte. Ihm war so übel wie an Silvester, als er den Punsch aus einer Blumenvase getrunken und zu viel Sauerkraut zum Rippchen gegessen hatte. Leise stöhnend zog er seine Unterhose an. Er wollte aufs Klo in den Zwischenstock und suchte bereits nach dem Lichtschalter, als ihm einfiel, dass Trudchen Schafgut einmal gesagt hatte, Frauen wären noch lichtempfindlicher als Fledermäuse. So lief der Rücksichtsvolle den Weg hin und den zurück im Dunkeln, aber einen halben Meter vor dem Bett stolperte er doch. Er hätte den kleinen Fehltritt noch nicht einmal zur Kenntnis genommen,

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