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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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und so blank, dass selbst Claudette und Alice in ihren festen Schuhen ausrutschten, rieb die Klinke von der Kellertür mit Salmiak ab und wienerte das Fenster im Flur mit einem hochprozentigen Essig, der im ganzen Haus stank. Jeden Sonntag Schlag zehn ging Frau Neugebauer mit ihrem Mann und den drei Kindern, die nie im Treppenhaus grüßten, in die Kirche; auch wochentags trug sie ein auffallendes, im gotischen Stil gearbeitetes Silberkreuz um den Hals.
    Bei dem Pirol hingegen handelte es sich um einen allseits beliebten Hausgenossen. Er nahm bereits das zweite Jahr im Hinterhof der Rothschildallee 9 Quartier, unterhielt bei offen stehenden Fenstern Sprechkontakt mit dem Papagei Otto und war ein Meister der Imitation.
    Auch am dritten Tag nach der Rückkehr von ihrer gescheiterten Expedition in die große Welt war die Patientin bleich, apathisch, appetitlos und stumm wie der sprichwörtliche Stockfisch. Vergraben in Kissen und eingehüllt in eine dicke Decke mit persischem Muster, wirkte sie wie ein verängstigtes Kind, das tagelang durch einen undurchdringlichen Wald gelaufen ist und dann nicht mehr begreifen kann, dass es gerettet wurde und zu Hause ist.
    »Ich muss immerzu daran denken, dass sie als Kind hauptsächlich die Märchen vorgelesen haben wollte, in denen kleine Mädchen mutterseelenallein durch die Welt irrten«, sorgte sich Betsy.
    »Nach dem, was Erwin mir angedeutet hat, scheint es sich in Victorias Fall weder um ein Märchen noch um einen Fall von mutterseelenallein zu handeln«, seufzte Johann Isidor. »Ich glaube, wir sollten sie erst mal ganz in Ruhe lassen. Übrigens ist sie kein kleines Mädchen mehr. Eher das Gegenteil, würde ich sagen.«
    »Ja, siehst du denn nicht, dass deine Tochter nur noch Haut und Knochen ist?«
    »Sie kann sich doch unmöglich in zwei Tagen an den Rand des Todes gehungert haben. Das hat doch nicht einmal das Mädchen mit den miauenden Katzen geschafft.«
    »Das war Paulinchen, und die ist verbrannt, weil sie mit Streichhölzern gespielt hat. So ein Mann hat’s wirklich gut. Redet den größten Stuss und wird trotzdem als Krone der Schöpfung gefeiert.«
    Aus Furcht, Victoria könnte jegliche Nahrung verweigern, wenn sie zum Essen gedrängt wurde, servierte Frau Betsy ihre berühmte heilende Hühnersuppe in einer winzigen roten Schüssel, die sie zur Erinnerung an frohe Kindertage aufbewahrte. Auch hielt sich die in der Krankenpflege erfahrene Hausfrau mit Fragen jeglicher Art zurück, obwohl ihr das Schweigen so schwer fiel, dass ihr Magen ebenso stark rebellierte wie der ihrer Tochter. »Eine besorgte Mutter«, vertraute sie ihrem Mann an, »hat das Recht, neugierig zu sein.«
    »Nein, die Pflicht, meine Liebe. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Du hast sie ja immer wahrgenommen.«
    Victoria hatte auf der Rückfahrt von Berlin nichts so sehr gefürchtet wie die übliche mütterliche Inquisition, doch zeigte sie sich weder erleichtert noch dankbar, dass sie vor jeder Bedrängnis in Frageform verschont wurde. Zu ihrem körperlichen Befinden äußerte sie sich widerwillig und mit geschlossenen Augen; schon gar nicht sprach sie von den Wunden ihrer Seele. Am späten Nachmittag, wenn das Fieber stieg und die spätsommerliche Schwüle selbst gesunde Körper und Köpfe bleischwer machte, stellte sich die Patientin sogar vor, Gevatter Tod würde, mit seiner Sense winkend, an der Schwelle stehen. Und Josepha wusste zu berichten, sie hätte Victoria »Ich bin bereit« flüstern hören, und sie wäre »so steif geworden wie eine tote Katze«.
    »Sich steif wie ein Bügelbrett zu machen hat sie vor Jahren in der Ballettstunde gelernt«, sagte Erwin. »Erinnerst du dich denn nicht, Josepha? Es war doch ihre ganz große Nummer.«
    Noch hatte er keinem außer Clara über Victorias Berliner Auftritt aus seiner Perspektive berichtet. Nur weil ihm die Zigaretten ausgegangen waren und die Sucht ihn aus dem Bett getrieben hatte, hatte er überhaupt morgens um halb acht die fröhlichste, keckste und mutigste seiner Schwestern schluchzend vor der Wohnungstür der ehrbaren Witwe Benantzky aufgefunden – von einem Sommergewitter niedergestreckt, durchnässt und verwirrt, mit Augen wie ein geprügelter Hund, zerrissenen Strümpfen und einem blutenden Knie. Sie war noch unmittelbar vor dem Ziel über einen Kanaldeckel gestolpert.
    »Ein gefallenes Mädchen«, sagte Clara, »ich hab gehört, so etwas soll vorkommen.«
    »Ein gefallenes Mädchen mit Rückfahrkarte in den Schoß der

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