02 Die Kinder der Rothschildallee
Ober, ob es zufrieden sei. Victoria legte die Kuchengabel auf den leeren Teller und nickte fein. Kein gewöhnliches Fräulein zu sein, sondern ein gnädiges war Mademoiselle Sternberg so gewohnt wie Buttermesser und silberne Messerbänkchen. Wladi hingegen staunte so über die Galanterie eines einfachen Kellners, dass er wie die jungen Muskelmänner vom Frankfurter Großmarkt pfiff.
Am Nachbartisch schüttelte eine alte Dame mit dreifachem Perlencollier ihre silbernen Locken. Victoria genierte sich, als sie es bemerkte. Wladi bestellte einen Kümmelschnaps für sich und einen Eierlikör für Victoria. Die Rechnung zahlte er, ohne zusammenzuzucken, obwohl er nicht gewohnt war, Geld für Essen auszugeben, wenn er satt war. Doch schon der weißblonde Scherenschleifer, den er für seinen Vater gehalten hatte, hatte immer gesagt, es wäre kurzsichtig, nicht ordentlich zu investieren, wenn das Ziel es erfordere, und es wäre kreuzdämlich, an der falschen Stelle zu sparen.
Später kamen sie eng umschlungen überein, am Quartier zu sparen und erst genau zu prüfen, was die Reichshauptstadt ihnen außer Bett und Stuhl zu bieten hätte. »Raum ist in der kleinsten Hütte«, sagte er beim letzten Kuss im Zug. Es war wieder in einem Tunnel.
»Für ein glücklich liebend Paar«, ergänzte Victoria.
»Du bist zu schlau für mich, Mädchen, hast immer das letzte Wort.«
Die Pension in einem Haus aus rotem Stuck lag unmittelbar am Schlesischen Bahnhof in einer schäbigen kleinen Straße, die ihn an die Straßen rund um den Frankfurter Ostbahnhof erinnerte und sie ungewohnt schweigsam machte. Die Unterkunft hatte auffallend kleine Fenster, kein Namensschild, weder einen Gästeeingang noch eine der in solchen Häusern üblichen Karten, die auf die Abgabe von Speisen und Getränken hinwiesen. Stattdessen klebten zwei mit Rotstift beschriebene Stück Pappe auf einem der Fenster. Auf einem Schild stand »Zimmer frei. Nicht für Frauen ohne männl. Begleitung«, auf dem anderen »Fließ. Wasser«. Die Adresse hatte Wladi von einem Nachbarn bekommen, mit dem er jeden Freitag zum Ebbelwein nach Sachsenhausen ging. Der Mann kannte sich in ganz Deutschland aus. Er war Zimmermann und auf der Walz bis Breslau und Königsberg gekommen. Er aß sogar Fleischklopse mit Kapern, Pferdefleisch und Kutteln. Von den billigen Preisen der Berliner Örtlichkeit hatte er ausführlich berichtet, aber nicht, dass sie intensiv nach ranzigem Bratfett und Fleischabfällen roch und im Sommer Treffpunkt der Berliner Fliegen war.
Die Wirtin des heruntergekommenen Hauses, einen knurrenden Spitz zwischen den Beinen, saß in einem verblichenen Ohrensessel. Sie trank ihr Bier aus der Flasche und benutzte das Glas, um ihre vielen Zigarettenstummel mit Bier zu löschen. Obwohl es ein erdrückender Hundstag war und schon der Gedanke an Wolle den Schweiß in Strömen fließen ließ, strickte sie einen dicken Kniestrumpf. Der war moosgrün und von einer ungewöhnlichen Länge. Die Frage nach Logis beantwortete sie äußerst knapp.
»Verheiratet?«, schnarrte sie.
Victoria drehte den Hut, den sie seit der Ankunft in Berlin nicht mehr aufgesetzt hatte, verlegen in den Händen. Wladi sah aus, als wollte er die Hand erheben. Die Wirtsfrau richtete die Nadel, die sie gerade leer gestrickt hatte, auf Victoria. »Zwei Zimmer«, bestimmte sie. »Habt Ihr noch nie nichts vom Kuppeleiparagraphen gehört? Um mich reinzulegen, müsst ihr schon früher aufstehen.« Sie schob den Hund beiseite, hievte ihren Körper schwer atmend aus dem Sessel, zog so heftig an einer klemmenden Schublade, dass sie taumelte, und sagte: »Du furzt wie eine Mastsau« zum Spitz. Dann knallte sie zwei Schlüssel, an denen jeweils eine große Holzkugel hing, auf den Tresen. »Erster Stock«, sagte sie, »Klo ist auf dem Flur im Zwischenstock. Papier könnt ihr bei mir kaufen, wenn ihr’s braucht. Die Zimmer müssen bis zehn Uhr morgens geräumt sein.«
»Wir wollen länger als eine Nacht bleiben.«
»Wenn du und deine Donna nicht gleich die Anmeldebogen ausfüllt, junger Mann, macht ihr sofort die Fliege.«
Damit sie nachts nicht stolperten und dann die anderen Gäste aufweckten oder gar den menschenfeindlichen Spitz, übten sie schon am Nachmittag, unbemerkt von einem Zimmer zum anderen zu schleichen. Wladi hatte den Vorteil, dass er bereits als Bub aus mannigfachen Gründen die lautlose Form der Bewegung eingeübt hatte. Victoria kam zugute, dass sie es abenteuerlich und romantisch fand, sich
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