02 Die Kinder der Rothschildallee
»Du bist ein Frühlingstag und eine Sommernacht, die Sonne und der Mond. Ich habe nie gedacht, dass mir so etwas passieren kann. Ich dachte immer, das Glück kommt nur zu den reichen Leuten.«
Die, die da wähnte, das Märchen, das sie just erlebte, wäre neu und wahr, zeigte sich schon als kleines Mädchen ungewöhnlich mitteilungsfreudig, wenn sie in Hochstimmung war. Nun war sie es wieder. Ihrem aufmerksam lauschenden Reisegenossen erzählte sie mit dem Spott derer, die sich in Gegenwart anderer nicht zu ihrer Familie bekennen mögen, und dem Jungmädchenkichern, das seit jeher neue Liebhaber mit mehr Informationen versorgt, als einer soliden Verbindung zwischen Mann und Frau guttut, von ihrem bürgerstolzen, naiven Vater.
»Das gute Papachen«, mokierte sich seine garstige Tochter. Sie schüttelte, als sie die distanzierende Verkleinerungsform gebrauchte, kokett den schon seit einiger Zeit nicht mehr behüteten Kopf. »Der arme, ahnungslose Mann hat doch tatsächlich das Portemonnaie seiner Tochter und ihre Brieftasche so vollgestopft, als würde sie nach Amerika auswandern. Sonst ist er sparsam bis zum Geiz. Doch bei der hochvornehmen Familie von Edelhagen, wo die kleine Vicky, wie sie ihren besorgten Eltern weismachte, in Berlin Quartier nehmen wird, soll sie bloß nicht den Eindruck erwecken, wir wären miese jüdische Emporkömmlinge und wüssten nicht, was sich in Adelskreisen gehört.«
Es machte Wladi erhebliche Mühe, den Satz mit dem irritierenden Konjunktiv und dem verwirrenden Übergang in die dritte Person in verständliche Einzelteile zu zerlegen. Er war, als er die Quintessenz begriff, ebenso frappiert wie beeindruckt, aber auch ein wenig unsicher. Verlegen suchte er nach dem blauweiß karierten Schnupftuch in seiner Hosentasche. Schwitzen erschien ihm noch kleinbürgerlicher als Schweigen. Jedoch fasste er sich rechtzeitig. Sein Liebchen mit der Zauberbörse fasste er fest um die Taille. Er blies eine vorwitzige Locke von seiner Stirn, hüstelte den Hals frei und schlug vor, als wäre ihm das Procedere so geläufig wie die morgendliche Rasur, das liebenswerte Plaudertäschchen in den Speisewagen zu führen.
»O ja«, sagte Victoria. Die Reise nach Baden-Baden fiel ihr ein und wie ihr Vater, als die Mutter von einem Mann mit einem weißen Karren am Frankfurter Hauptbahnhof Obst hatte kaufen sollen, gesagt hatte: »Obst isst man zu Hause.«
Die Tische waren weiß eingedeckt, auf jedem stand eine schmale silberfarbene Vase mit einer langen roten Rose. Für gewöhnliche Reisende verströmte die Liebesblume einen zarten Duft, die Liebenden betörte sie wie das Zauberkraut des Oberon im nächtlichen Traumwald. Mal schaukelte der Zug, als hätte er weder Fahrplan noch Ziel, mal rollten die Räder ins Paradies. Bäume im Sommergrün und graue Telegrafenstangen mit Raben, die im August mit dem Winter drohten, verschwanden, kaum dass sie aufgetaucht waren. Auf den Feldern banden Frauen mit geblümten Kittelkleidern das Heu zu Stapeln. Die Kornblumen waren königsblau, der Mohn feuerrot – genau wie der, der nun auf den Soldatengräbern in Frankreich und Flandern leuchtete, doch von blutgetränkter Erde und begrabenen Hoffnungen wussten die Jungen nichts mehr.
»Mohn ist meine Lieblingsblume«, sagte Victoria.
»Ach«, staunte Wladi. In Hopfgarten wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Blume mehr als die anderen zu lieben. Trotzdem sagte er: »Meine auch.« Unter dem Tisch berührte sein Fuß einen weichen Spangenschuh, seine feste Männerhand eine wohlgeformte Wade. Sie tranken Kaffee, der in kleinen silbernen Kannen auf dem Tisch stand. Obwohl er solches Geschirr aus den Tanzcafés kannte, in die er Frau Trudchen führte, streichelte er ehrfurchtsvoll das zierliche Sahnekännchen. Sie versenkte den Zucker in ihre Tasse und wurde rot, denn sie nahm an, er würde das Kännchen streicheln und sie meinen. Jeder aß ein Stück Gebäck. Victoria dachte über den Preis nicht nach, Wladi rechnete ihn in Brötchen um. Er nannte die Verlockung auf seinem Teller ein »Schokoladendingsbums«. Seine Lippen rieb er mit dem Handrücken sauber. Sie sagte, Eclairs mit Mokkageschmack würden ihr besser schmecken, und tupfte mit einem Spitzentaschentuch die Creme vom Mund.
Der Kellner im weißen Jackett, ein alternder Mann mit Augen, die noch müder waren als seine Füße, schaute das ungewöhnliche Paar mit einer Miene an, für deren Deutung es Victoria an Erfahrung fehlte. Das gnädige Fräulein fragte der
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