02 Die Kinder der Rothschildallee
Doktortitel, ersatzweise mit Immobilienbesitz und zumindest von durchschnittlich gutem Aussehen. Als jedoch diese »blendende Partie«, die einem solchen Gatten zugedacht war, Wladimir Bellini kennenlernte, der weder eine standesgemäße Familie noch ein regelmäßiges Einkommen, keinen Schulabschluss und schon gar nicht die Manieren hatte, die in Bürgerhäusern als selbstverständlich vorausgesetzt wurden, machten ein einziger Blick aus den bezwingenden Augen eines geborenen Verführers und ein kleiner Becher Vanilleeis zwanzig Jahre elterlicher Mühen zunichte.
Wladi war genau der Mann, den sich schon die zehnjährige Victoria gewünscht hatte. Er war schön, schlank und stark, hatte den Charme von Don Juan, war so männlich wie Götz von Berlichingen und als Geschichtenerzähler unschlagbar. In den Grünanlagen am Mainufer verwandelte er sich in Franz von Assisi. Er redete mit den Vögeln und den Schoßhunden alter Damen. Victoria machte er so originelle, animierende, den Verstand einlullende Komplimente, dass die Flügel, mit denen sie dabei war, in den siebten Himmel der Liebe zu fliegen, schon beim Abflug lichterloh brannten.
Das unschuldige kleine, trotz ihrer Kapricen und Flausen brave Bürgermädchen vergaß alles, was es je gewusst und gelernt hatte. In einem grauen Nebel entschwand das Bild des verhärmten, vor der Zeit gealterten Bruders Erwin, der so glücklos aus der bürgerlichen Welt ausgebrochen war. Sein Entschluss beruhte immerhin auf jahrelangen Überlegungen, sein Impetus waren Hoffnung und Selbstvertrauen. Als Victoria über den gleichen Graben sprang, trieb sie allein ihre Impulsivität – und die Illusion, dass sie reif genug war, das Nest zu verlassen. Mit geschlossenen Augen riss sie die Zäune nieder, die sie beschützt hatten, mit Kinderjubel öffnete die Arglose die Tür zu der Burg, von der sie irrtümlich glaubte, sie wäre ein goldener Käfig und würde ihr die Freuden des Lebens verwehren.
Victoria, die eine Schauspielerin wie Elisabeth Bergner, eine Tänzerin wie Isadora Duncan und noch sehr viel berühmter als Josephine Baker werden wollte, hatte keine Ahnung von den Fallen, in die törichte kleine Mädchen geraten. Rotkäppchen war immer ihr Lieblingsmärchen gewesen. Nun verließ auch sie den Pfad, auf den ihre kluge Mutter so lange bestanden hatte. Mit ausgebreiteten Armen hieß Victoria Sternberg den Wolf willkommen.
Ohne dass es die Himmelsstürmerin nur einen beunruhigten Herzschlag kostete, verdrängte sie, was ihre erfahrene, enttäuschte, für immer gezeichnete Schwester Clara ihr über Männer erzählt hatte. Betsys mutwilligste und mutigste Tochter, ohnehin nicht die richtige Adressatin für gut gemeinte Ratschläge und Warnungen, verliebte sich mit der Leidenschaft, die einer jungen Frau gegeben ist, in einen Mann, mit dem sie nur zwei Dinge gemein hatte: Sie saßen beide gern im Garten des Café Hauptwache, und beide glaubten sie, sie würden Theatergeschichte schreiben.
Amor, der Spitzbube mit den verantwortungslos abgeschossenen Liebespfeilen, brauchte nur vierzehn Tage und drei Stunden, um aus einem kleinen Feuer einen Brand zu machen. Dann wurden die Fahrkarten gekauft, die Koffer gepackt, die Eltern Sternberg beschwichtigt und angeschwindelt und Trudchen, die Schneidersgattin, so belogen, dass sich selbst Balken aus Eisen gebogen hätten. Schon zwischen Frankfurt und dem ersten Tunnel auf der Strecke nach Berlin verfiel Victoria Männerkünsten, über die sowohl die Schulbücher für höhere Töchter als auch ihre Mutter geschwiegen hatten. In ihren Augen glitzerten Funken; sie hörte die Himmelsgeigen den Hochzeitsmarsch spielen. Stolz warf sie ihren Brautstrauß der bedauernswerten, kreuzbraven Anna zu, die nie einen so kapitalen Mann wie Wladi finden würde. Casanova aus Hopfgarten öffnete die oberen zwei Knöpfe von Victorias Kleid und schmiegte eine Wange, die nach dem scharfen Rasierwasser Pitralon roch, das aus jedem deutschen Mann einen Welteroberer machte, an ihre Brust.
»Ich kann nicht mehr warten«, seufzte der Jäger.
»Ich auch nicht«, schluckte seine Beute. »Lieber Gott, lass es Abend werden.« Es gab keine Rettung. Victoria war bereit, ihre Familie zu verlassen, ihren Glauben zu wechseln, ihre Seele zu verkaufen, nie mehr ein Theater zu betreten, Wladi bis ans Ende der Welt zu folgen und für den Rest ihres Lebens in Armut zu leben – nur nicht in Keuschheit.
»Du weißt gar nicht, wie schön du bist«, schwärmte der Süßholzraspler.
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