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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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mit denen der Oper, der Unterhaltungsmusik und sogar der Kirchenmusik kombiniert. »Mich schaudert’s«, hatte Frau Betsy bei der Lektüre der »Frankfurter Zeitung« gerügt. »Dass diesen modernen Musikklempnern auch nichts mehr heilig ist. Man würde nicht denken, dass dieses Land einmal einen Beethoven und einen Brahms hervorgebracht hat.«
    Victoria und Wladi, noch optimistischer als unerfahren, hatten sehr wohl gewusst, dass die Premierenkarten für die »Dreigroschenoper« seit Wochen ausverkauft waren. Trotzdem hatten sie weiter an die gute Fee geglaubt, die mit gütigem Lächeln dem Liebespaar aus Frankfurt die Eintrittsbilletts ins Paradies überreichen würde. »Alle Theater halten Karten für überraschende Gäste bereit«, hatte Wladi schwadroniert, »das habe ich schon zigmal selbst erlebt. Irgendwo gibt es immer eine leere Loge für solche Fälle.«
    »Ich glaube aber nur für die ganz prominenten Besucher«, hatte Victoria eingewandt. »So wie früher der Kaiser oder jetzt Hindenburg. Oder Willy Fritsch.«
    »Lass du den guten Wladi nur machen. Wer dem den Schneid abkaufen will, muss ganz früh aufstehen. Ich bin bis jetzt in jedes Theater gekommen, in das ich reinwollte. Augen zu und durch, sag ich immer.«
    Wie bekannt, brauchte der phantasievolle Aufschneider den Beweis für seine Unerschrockenheit nicht anzutreten. Statt der Glücksfee übernahm ein Riese, der Frauen verachtete und das Urvertrauen eines jungen Mädchens auf einen Schlag und für immer zerstörte, die Regie im Leben der Victoria Sternberg. Die junge Naive aus Frankfurt am Main war nicht unter den Zuschauern, als Harald Paulsen, der den Mackie Messer spielte, Erich Ponto als Bettler Peachum, Roma Bahn als seine Tochter Polly und Lotte Lenya als Spelunken-Jenny die Zuschauer zum Rasen brachten. Die düsterste Seite des Lebens, die auf einer Berliner Bühne zu einem bleibenden Ereignis wurde, erlebte Victoria in vertrauter Umgebung und nicht als episches Theater mit Spott, Satire, Feuer und Musik, sondern als tieftraurige Realität.
    Am Tag der Premiere lag sie mit hohem Fieber fröstelnd in ihrem alten Jungmädchenzimmer. Die weißen Möbel, die Frau Winkelried während ihrer Abwesenheit mit Seifenlauge hatte abschrubben müssen, verhöhnten in ihrer Reinheit eine Verzweifelte, die sich beschämt und beschmutzt und auf immer verdammt fühlte, ihr Brot mit Tränen zu essen. Die zitronengelben Gardinen mit den meerblauen Schmetterlingen, die den Blick in die Sommerwelt verwehrten, weil die Kranke das Licht nicht vertrug, erzählten die falschen Geschichten von Leichtigkeit und Hoffnung. Mit dem Schmerz der Sünderin, die nicht mehr auf Erlösung hoffen darf, starrte Victoria die Wände an. Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie die romantischen Bilder, die sie als Vierzehnjährige für ihr Zimmer ausgesucht hatte. Fröhliche Mädchen in langen Kleidern und mit Blumenkränzen auf dem Kopf tanzten auf einem Blumenteppich Reigen. Tauchte Victoria mal kurz aus der Höllengrube auf, in die sie aus dem Himmel der Verliebten gestürzt war, schaute sie auf das Bücherregal ihrer Kindertage. Neben dem dritten Band von »Fräulein Übermut« saß der Puppenjunge mit dem ausdruckslosen Gesicht und dem ausgestopften Rucksack. Für ihn hatte die sechsjährige Vicky, die nie bereit gewesen war, ein Nein zu akzeptieren, gegen den Willen der Mutter und mit Tante Jettchens finanzieller Unterstützung eine feldgraue Soldatenuniform beschafft. Victoria kam ein neuer Tränenfluss, als sie an ihr geliebtes Jettchen dachte und dass deren tödliche Erkrankung auch mit nicht zu erklärenden Fieberschüben und Apathie begonnen hatte.
    Statt der Hochzeit von Mackie Messer und Polly Peachum in einem Pferdestall beizuwohnen und von der Spelunken-Jenny zu lernen, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral, hörte Victoria im Hinterhof die liebestollen Tauben gurren. Ein Pirol pfiff eine Melodie, die der von Hänschen klein glich, die Spatzen zwitscherten Wohlbefinden. Die unbeliebte Mieterin im Parterre beschimpfte mit schriller Stimme ihre beiden Söhne als »dreckige Saubälger«. Die Buben hatten ihren Ball auf ihre Bleichwäsche gekickt und mit einem einzigen Schuss ein Leinenkissen und eine Tischdecke erwischt. Verheiratet war sie mit einem Beamten vom Grundbuchamt, von dem sie als »mein Herr Gatte« zu sprechen pflegte. Die Frau, erst vor Kurzem in die Rothschildallee gezogen, hieß Hiltrud Neugebauer. Sie putzte die Treppe vor ihrer Wohnung täglich

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