02 Die Kinder der Rothschildallee
wäre nicht Victorias Handtasche vom Stuhl gefallen und hätte die nicht auch noch offen gestanden. Der gesamte Inhalt lag auf dem Boden.
Victoria gehörte nicht zu der Gattung der Fledermäuse. Sie rollte sich lediglich von der rechten auf die linke Seite, als der, der versprochen hatte, sie vor allen Gefahren und in jeder Not zu beschützen, die schummrige Deckenbeleuchtung anknipste. Der Mann der hehren Worte öffnete die Geldbörse. Er zählte auch das Geld in der Brieftasche.
Wladimir Bellini war rechtschaffen und ehrlich, doch er kannte auch das Wort »In einen offenen Kasten greift auch eine ehrliche Hand«. Zum Dieb geboren war er nicht, doch sagten nicht auch die Klugen und Frommen, Gott würde nichts ohne Absicht tun? Trotzdem brauchte er, der Gottes Wege so genau durchschaute, lange bis zur Stunde der Entscheidung.
Es war vier Uhr in der Früh, unmittelbar vor der Morgendämmerung als der schöne, phantasievolle, liebenswürdige Mann, der Victoria Sternbergs Herz gestohlen hatte, nun auch ihr Geld stahl. Bis zur letzten Minute ihres stürmischen Zusammenseins war er, der sich laut Definition der Juristen nun des Beischlafdiebstahls schuldig machte, um die besorgt, die er zur Frau gemacht hatte.
Auf einen kleinen Tisch mit einem winzigen Spitzendeckchen legte er die teure Brieftasche aus Kalbsleder, das elegante rote Portemonnaie, eine Rückfahrkarte nach Frankfurt und so viel Geld, wie Victoria brauchen würde, um die Elektrische zu ihrem Bruder zu nehmen. »Verzeih«, schrieb Wladi Bellini auf ein Stück braunes Papier. Es entstammte einer Tüte, in die Trudchen Schafgut ihm zwei Schinkenbrote als Reiseproviant gewickelt hatte.
4
DIE ENTSCHEIDUNG
1928/1929
Wäre Victorias Welt nicht schon in der ersten Nacht fern von zu Hause in Stücke zerfallen, wäre Mittwoch, der 31. August 1928, der vierte Tag ihrer Berliner Reise gewesen – vor allem der mit Ungeduld erwartete Höhepunkt. In dem Tagebuch auf ihrem Nachttisch, in dem sie, genau wie als Dreizehnjährige, der Geheimhaltung wegen Bilder, Spiegelschrift und selbst erfundene Schriftzeichen verwandte, war der letzte Augusttag mit einem grasgrünen Ausrufezeichen und drei einzelnen, sorgsam gemalten Groschen gekennzeichnet. Zum Zeitpunkt der Eintragung hatte die Chronistin fest damit gerechnet, den ungeliebten August, den sie als öde und kränkend empfand, weil die meisten Freundinnen – und vor allem ihre Verehrer – verreist waren, in Berlin zu verabschieden. »Adieu, comme il faut«, hatte Victoria gejubelt.
Für den 31. August stand im Berliner Theater am Schiffbauerdamm die Uraufführung von Bert Brechts »Dreigroschenoper« auf dem Programm. Theaterkundige und Menschen, die sich dafür hielten, sprachen im Vorhinein vom Schlager der Saison und schwärmten vom vergangenen Sommer in Baden-Baden. Dort war Brechts »Mahagonny« uraufgeführt worden, mit der Musik von Kurt Weill, der nun auch die »Dreigroschenoper« vertont hatte.
Nur Anna hatte noch nie etwas von Brecht gehört und hielt Weill für einen Bekannten ihres Vaters. Zufällig hieß der auch Kurt und war ein renommierter Briefmarkenhändler in der Fahrgasse. Als Victoria dahinterkam, hatte sie auf absolut nicht schwesterliche Art den Kopf geschüttelt und noch dazu in Gegenwart der frech grinsenden Alice theatralisch die Arme himmelwärts gestreckt. Die gedemütigte Anna, puterrot und unglücklich, hatte sich ihrer Unwissenheit so geniert, dass sie aus dem Zimmer gerannt war, um sich umgehend von der sehr viel verständnisvolleren Clara über die Entwicklung am deutschen Theater im Allgemeinen und über die Bedeutung des jungen Dichters Bert Brecht im Besonderen aufklären zu lassen. »Und komm bloß nicht auf die aberwitzige Idee«, hatte Clara ihre verlegene Halbschwester ermahnt, »dass du dumm bist und Victoria schlau ist. Sie musste schon im zweiten Schuljahr den Satz ›Je größer der Narr, je größer der Hochmut‹ zehnmal in ihr Aufsatzheft schreiben. Leider hat’s nichts geholfen.«
Die meisten Zeitungen, selbst die Provinzblätter und die Familienjournale, sogar die Kundenzeitung, die Josepha einmal in der Woche vom Bäcker mitbrachte, hatten von den Theaterproben in Berlin berichtet. Namhafte Kritiker hatten sich bereits ausführlich mit der Musik von Kurt Weill beschäftigt. Obschon nur ein winziger Kreis diese vor der Premiere gehört haben konnte, wurde sie als äußerst ungewöhnlich und provozierend empfunden. Es hieß, der Komponist hätte Elemente des Jazz
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