02 Die Kinder der Rothschildallee
ausreichen, bis sie sich beruhigt hatte. Erschrocken stellte Claudette Teller und Eclair auf das Fensterbrett. Sie knickste tief, was sie immer tat, wenn sie verlegen war, lief so weit, wie sie nur konnte, vom Bett weg und drückte, Halt suchend, ihren Rücken an den Kleiderschrank. Mit ihrer schönen, lauten, manchmal als überdeutlich empfundenen Stimme fragte sie ihren zufällig anwesenden Onkel Erwin: »Kann man denn mit einer toten Tante noch spielen?«
Erwin, der dabei war, seinen täglichen Besuch am Krankenlager auf männertypische Weise zu verlängern, indem er den Frankfurter »General-Anzeiger« gründlicher las, als er dies unter gewöhnlichen Umständen getan hätte, legte sofort die Zeitung aus der Hand. Mit traurigem Blick schüttelte er sein kluges Haupt. Dann machte er sich ans Werk, seine wissbegierige kleine Nichte über die Endgültigkeit des Todes und die Unwiederbringlichkeit des Glücks aufzuklären. Er wählte äußerst anschauliche Beispiele, um sich dem Kind verständlich zu machen, fing beim törichten Suppenkasper an, der sich ins Grab gehungert hatte, erzählte von Romeo und Julia, sagte über Frau Lot »zu Salz erstarrt ist doppelt tot« und hielt sich längere Zeit bei der kopflosen englischen Königsgattin Anna Boleyn auf, die Heinrich VIII. aufs Schafott geschickt hatte. Claudette war tief beeindruckt und unersättlich in ihrem Forscherdrang; ihre Großmutter, die ins Zimmer kam, als eine von Blaubarts neugierigen Gattinnen gerade ihren letzten Atemzug tat, war außer sich. Genau wie vor vierzehn Jahren in Baden-Baden, als sie an der Mittagstafel um das Seelenleben der sechsjährigen Victoria gebangt hatte, zischte sie gebieterisch: »Taisez-vous!«
Claudette, klug und verständig wie immer, streichelte zärtlich, aber auch mit nachdenklicher Miene die heiße Wange ihrer leidenden Tante. Als sie aber die Kuchengabel beherzt in das Eclair stach, das nun nach dem Urteilsspruch der Großmutter ihr gehörte, schien sie recht zufrieden. Auf alle Fälle sah sie zuversichtlich in die Zukunft. »Ich bin froh, dass ich noch zwei andere Tanten habe, wenn Tante Victoria tot ist«, sagte das süße Kind.
Es war der Moment, in dem die Patientin begriff, und dies ein für alle Mal, dass diejenigen, die vor der Wirklichkeit flüchten, im Leben das Nachsehen haben. Noch während sich ihre schmatzende Nichte die Schokoladenkuvertüre des schaumweichen Gebäcks munden ließ, stand Victoria auf. Ein wenig wacklig auf den Beinen, aber doch mit mutig erhobenem Kopf, lief sie zum Fenster, machte es auf und trank die frische Luft, als wäre sie der Götter Nektar. »Ach«, sagte sie und ging, nun schon mit festerem Schritt, auf die Frisierkommode mit dem großen Spiegel zu. Schaudernd starrte Victoria auf ihr blasses, vom Weinen aufgequollenes Gesicht. Sie sah, dass ihr Haar feucht und strähnig war und dass es am Kopf klebte, befühlte ihre vom Fieber aufgesprungenen Lippen, die Backenknochen und den ausgedorrten Hals. Niedergeschlagen wandte sie sich ab; sie setzte sich auf die Bettkante und stellte sich darauf ein, dass sie wieder anfangen würde zu weinen, doch der Tränenfluss war versiegt. Eine Viertelstunde später stellte sie fest, dass ihre Temperatur wesentlich niedriger war als am Morgen. Ihr Kopf war wieder klar. Erwartungsvoll, als hätte sie das Zimmer, das seit zwanzig Jahren das ihrige war, noch nie gesehen, schaute sich Victoria um. Einen Moment lang konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie Vertrautes sah oder Neues entdeckte. Es verlangte sie, nach der Mutter zu rufen, doch sie drückte nach Kinderart die Hand auf den Mund.
Erwin und Claudette waren gegangen. Der Kuchenteller stand auf dem Fensterbrett, die eine Hälfte vom Frankfurter »General-Anzeiger« lag auf dem weißen Korbsessel, der Rest zerfleddert auf dem Fußboden. Erwin hatte, was sein Vater als schlüssigen Beweis für einen labilen Charakter zu werten pflegte, seiner Lebtag lang keine ausgelesene Zeitung zusammengefaltet. »Liederlich macht widerlich«, hatte der preußisch korrekte Handelsmann Sternberg seinen Kindern gepredigt, sobald er Gelegenheit dazu fand, sich auf sein Lieblingssprichwort zu berufen; es mangelte ihm selten an passenden Situationen.
Victoria merkte nicht, dass sie lächelte. Ihr fiel allerdings auf, dass die Sonne schien, die Wolken durch ein violett getöntes Licht segelten und dass der Pirol immer noch die Melodie pfiff, die der von Hänschen klein ähnelte. Der Gedanke an das Kinderlied
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