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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Familie«, stellte Erwin klar. »Das ist ein Absturz erster Klasse. Ich musste für mein Fahrgeld und die Hasenbrote für uns beide bei der guten Frau Benantzky Männchen machen und ihr bei allem, was ihr heilig war, versichern, dass auch Juden ihre Schulden zurückzahlen. Übrigens hättest wenigstens du deine kleine Schwester ein bisschen aufklären können. Sie glaubt zwar nicht mehr an den Klapperstorch, aber nach dem, was sie mir in der Bahn erzählt hat und nach ihren Fragen zu urteilen, ist sie auch nicht sehr viel weiter im Pflichtpensum für Jungfrauen aus guter Familie gekommen.«
    »Sie ist die Erste nicht.«
    »Sagst du!«
    »Sagt Goethe. Im Faust.«
    Der Gedanke an ein jähes Ende in der Blüte ihres Lebens erschien Victoria längst nicht so schrecklich, wie sie an dem unvergessenen Abend gedacht hatte, als sie, fünfzehn Jahre alt und mit tränennassem Taschentuch in der heißen Hand, Mimi aus der »Bohème« auf der Opernbühne hatte sterben sehen. Nun, da geschehen war, was sie auch vier Tage nach der Stunde null nicht fassen konnte, erschien ihr der Tod als würdige Erlösung aus einer aussichtslosen Situation.
    Der Berliner Nachtmahr, der Schock und der Ekel reduzierten sich für Victoria auf das Hohngelächter und die Gewalt eines Mannes, der in ihren Halluzinationen zu einem Kannibalen ohne Gesicht und mit einem Feuer speienden Glied mutiert war. Gelang es ihr doch, zwischen den Schüben der Verzweiflung den Gedanken an die Brutalität zu verdrängen, die ihr den Stolz, ihre Würde, die Selbstachtung und alle Hoffnung auf eine Zukunft ohne Vergangenheit und ohne Schande genommen hatte, lähmte sie eine Panik, von der sie bis dahin nicht gewusst hatte, dass es eine solche kreatürliche Angst überhaupt gab. Das beklemmende Gefühl, einer Macht ausgeliefert zu sein, die keine Gnade kannte, war die eigentliche Hölle.
    Zwar war der ehrbare Bürger Johann Isidor Sternberg selbst Vater einer unehelichen Tochter geworden. Weil jedoch das Maß, an dem Männer gemessen wurden, ein anderes war als die Latte, die man den Frauen anlegte, war er doch allerorten angesehen und sein Ruf untadelig geblieben. Würde es nun diesem hochgeschätzten Handelsmann zum zweiten Mal widerfahren, dass eine Tochter, die seinen Namen trug, ihn zum Gespött seiner Freunde, der Nachbarn und der Geschäftsleute, ja auch seiner Verwandten machte? Johann Isidor hatte das Unheil kommen sehen. Sobald Victoria die Augen schloss, sah sie ihn vor seinem Schreibtisch stehen, und sie hörte ihn erklären: »Eine Tochter mit einem unehelichen Kind reicht mir für ein ganzes Leben.«
    Der Verlauf der Krankheit war ungewöhnlich. Vier furchtbare Tage lang glichen die Symptome denen der tödlichen Spanischen Grippe, an der fünfzig Millionen Menschen in der Welt gestorben waren. Dass Victoria, so schwach, hilflos und weiß wie die Bettlaken, unter denen sie kauerte, buchstäblich von einer Stunde zur nächsten genesen würde, hatte niemand erwartet. Am wenigsten sie selbst. Am Mittag des fünften Tages entstieg sie ihrer Leidensgruft wie einst Phönix der Asche, und dies tat sie mit einer Haltung, um die sie ein jeder in der Familie bewunderte.
    Weder der immer optimistische Doktor Meyerbeer noch Victorias desperate Mutter hatten auf eine solche Spontanheilung zu hoffen gewagt. Sie war nicht Mutters Hühnerbrühe und nicht den kühlenden Wadenwickeln zuzuschreiben, nicht Josephas Tränen am Krankenbett und nicht ihrem heißen Fliedertee mit dem nahrhaften Waldhonig, der direkt von einem Imker in der Wetterau bezogen wurde. Noch nicht einmal das Aspirin, auf das neuerdings die Mediziner so vertrauensvoll setzten wie greise Bauersfrauen auf die Kräuter von deutschen Wiesen, war an diesem großen Wunder beteiligt. Das Mirakel war allein der kleinen Claudette zu verdanken.
    Der Unschuldsengel mit der Stupsnase, der niemals auf eine Frage verzichtete, wenn nur die geringste Aussicht auf eine Antwort bestand, war von der Mutter in die erste Etage delegiert worden – mit einem kleinen Kuchenteller und einem besonders großen Eclair. Als aber Claudettes geliebte Tante Victoria, die in Wirklichkeit Dornröschens Erste Hofdame und nur auf Urlaub in Frankfurt war, das Gebäck erblickte, begann sie zu zittern und zu würgen. Kind und Kuchen wehrte die Edelfrau Victoria mit rudernden Handbewegungen ab. Zweimal schrie sie »Nein« und einmal »Nicht!«. Sie stöhnte, wimmerte und weinte. Es sah ganz danach aus, als würden hundert Jahre nicht

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