02 Die Kinder der Rothschildallee
brachte ihr Herz aus dem Takt. Ihre Stirn glühte. Sie nahm sich vor, umgehend Clara zu fragen, ab wann und auf welche Weise sich nach dem Zeitpunkt des Geschehens eine eventuelle Schwangerschaft abzeichnen könnte. Eine Zeit lang grübelte sie, wie sie ihrer Schwester von Wladi Bellini erzählen sollte, ohne sich allzu lächerlich zu machen. Clara hatte nicht die Eigenschaft, irgendwen mit ihrem Spott zu verschonen, schon gar nicht die, die sie liebte.
»Bloß keine voreiligen Geständnisse«, hatte Erwin in der Bahn gewarnt. »Nur Spießer halten die Wahrheit für rein und moralisch erforderlich. Tatsächlich hat sie auf der Welt mehr Schaden angerichtet als die Kartoffelkäfer und der deutsche Generalstab.«
Die Lektion war zwischen Göttingen und Kassel erfolgt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Victoria noch deklariert, nur Feiglinge würden versuchen, ihre Haut mit der kümmerlichen Waffe Lüge zu retten. Nun aber, in ihrem eigenen Zimmer mit sich selbst konfrontiert, wurde ihr klar, was der Bruder ihr hatte vermitteln wollen. Sie begriff, dass ihre Sorgen um keinen Deut geringer werden würden, wenn sie ihre Berliner Erlebnisse mit den Eltern teilte. »Sollte ich noch mal auf die Welt kommen und die Wahl haben«, sagte sie zu dem Puppenjungen mit dem Bajonett, »dann nur als Mann. Das kannst du mir glauben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Krieg der Männer schlimmer ist als die Angst der Frauen.«
Sie schlüpfte in die teuren Slipper mit den silbernen Pelzbommeln und zog einen lindgrünen Seidenkimono an, auf dem Rosen mit schweren Köpfen in Rosa und Rot glänzten. Clara und Victoria hatten das Prachtstück im gleichen Moment im Kaufhaus Wronker entdeckt und mit dem alten Kinderspiel »Schere, Stein, Papier« an Ort und Stelle entschieden, wer es kaufen durfte. Als Victoria die Robe zum ersten Mal anzog, hatte sie sich ausgemalt, so hätte Madame Butterfly bei ihrem ersten Treffen mit Leutnant Pinkerton ausgesehen. Auch jetzt, Lebensäonen später, hörte Victoria den amerikanischen Marineoffizier noch »Mädchen, in deinen Augen liegt ein Zauber« singen, und sie sah auch die Kirschbäume blühen, doch sie entschwebte nicht mehr mit Puccinis Musik in eine Welt der Träume und Schönheit. Sie war eine verzweifelte junge Frau, die mit der Butterfly das Leid vom kurzen Liebesglück teilte.
Zur Mittagszeit saß sie, von ihrer Mutter wie eine Erscheinung aus der Geisterwelt bestaunt und wie eine Prinzessin umsorgt, auf der gelbschwarz gestreiften Récamière im Wintergarten. Ihre Lippen waren noch fiebertrocken, aber die Stirn war wieder kühl. Dem weißen Licht in dem kleinen Raum und einem Zitronenfalter, der einen Flügelschlag lang an die Fensterscheibe, dann aber sofort zurück ins Leben flog, wohnten ein Zauber inne, der Victoria belebte. Die Geborgenheit, die dem Vertrauten entströmte, erlöste Kopf und Herz. Es war nicht mehr der Rausch der Liebe, nach dem es Victoria verlangte. In diesem Augenblick der Rückkehr begehrte sie nichts als Ruhe und einen Fixstern, um ihr Lebensschiff aus den Höllengewässern zu steuern.
Zur Hühnerbrühe – nicht mehr in alter roter Kinderschüssel serviert, sondern in einer weißen Suppentasse mit Veilchenmuster – aß sie ein Stück Toast, dick mit safrangelber Butter bestrichen. Von der Küche erreichte sie der Duft von Käsekuchen und frisch aufgebrühtem Kaffee. »Der erweckt Tote zum Leben«, lockte Josepha, als sie die kleine Silberkanne auf den runden Marmortisch stellte.
»Ich war doch nicht tot«, lachte Victoria, obwohl sie an das silberne Geschirr im Speisewagen hatte denken müssen und Wladi mit der Zuckerzange spielen sah.
»Ein bisschen tot warst du schon. Mir ist es damals ganz genauso gegangen.«
»Wann? Davon hast du mir ja noch nie was erzählt, Josepha.«
»Das erzähl ich dir, wenn du älter bist.«
»Ach, du! Das hast du immer gesagt, als wir noch Kinder waren.«
»Und bist du jetzt kein Kind mehr? Iss nur tüchtig, Vickylein. Den Käsekuchen hab ich extra für dich gebacken, damit du wieder Fleisch auf die Rippen und einen Mann fürs Leben kriegst. Magere Frauen sind wie magere Hühner. Sie geben weder eine ordentliche Suppe noch ein gutes Frikassee.«
Die Topfrosen auf dem Fensterbrett waren in einem sommerfrohen Rausch, sie blühten rosa, rot und weiß und prunkten mit ebenso großen Köpfen wie ihre Schwestern in den Gärten. Der Warzenkaktus hatte sich von seinem garstigen Namen nicht den Lebensmut nehmen lassen. Er stand auf einem
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