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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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vor, Erwin zu bitten, wenigstens noch die drei Wochen in Frankfurt zu bleiben, bis sie wusste, ob sie schwanger war oder nicht.
    »Das hätte ich ohnehin getan«, sagte er, als er sich am nächsten Morgen Vaters Zeitungen ausborgen kam. »Glaubst du denn, ich kann in Berlin in Ruhe Bilder malen, die sowieso kein Mensch je kaufen wird, wenn meine süße kleine Schwester hier von einem wütenden Vater in die Verbannung geschickt wird? Oder würdest du gleich in den Main gehen?«
    »Clara hat es doch auch geschafft.«
    »Clara ist ja auch ein Mann.«
    Frau Betsy, die in dreiunddreißig Jahren Ehe gelernt hatte, lieber drei Worte zu wenig als eins zu früh zu sagen, registrierte sehr wohl, dass ihre Tochter seit ihrer Berliner Reise nicht mehr davon sprach, Schauspielerin zu werden, doch in Victorias Gegenwart gab sie vor, sie hätte nichts gemerkt. »Was hast du vor?«, fragte die ungewöhnliche Mutter jeden Morgen, und wenn ihre blasse Tochter von den Exkursionen nach Hause kam, deren Ziel niemand kannte, wollte sie lediglich wissen »War’s schön?« oder »Hast du was Ordentliches gegessen?«.
    Victorias radikale Absage an die Muse Thalia war kein spontaner Entschluss. Er war in den Tagen der Verzweiflung gereift. Und, wie sich bald herausstellte, war er endgültig. Victoria glaubte nicht mehr an ihr Talent, sie hielt das Theater nicht mehr für das Lebenselixier der Auserkorenen. Sie übte keine Texte mehr für die Aufnahmeprüfungen in Schauspielschulen ein. Romeos Julia, Gretchen am Spinnrad und Schillers Jungfrau verschwanden für immer. Mit ihnen der Privatlehrer, der dem selbstbewussten Fräulein Sternberg so geschickt und selbstsüchtig die Flausen von Begabung und Ruhm in den Kopf gesetzt hatte. Victoria die Geläuterte, deretwegen der berühmte Kritiker Alfred Kerr sich in der ersten Reihe die Hände hatte wund klatschen sollen, wenn er sie als Gerhart Hauptmanns Hannele sterben sah, machte ihre Augen zu und verstopfte ihre Ohren, sobald jemand nur das Theater erwähnte.
    Auch ins Kino mochte Victoria nicht mehr gehen. Oft zog sie sich nach dem Essen zurück; sie sprach von »interessanten, guten« Büchern, die sie schon »seit Ewigkeiten« hätte lesen wollen, und sie glaubte, was sie sagte. Zur Überraschung der Familie entdeckte sie ihre kleine Schwester. Alice, die selbst ihre geduldige Mutter des Öfteren als Nervengift bezeichnete, vermochte ihr Glück kaum zu fassen. Ihre schöne Schwester Victoria, von allen bewundert und hofiert, ging mit ihr einkaufen und Eis essen und holte sie von der Schule ab. Sie promenierte mit ihr im Westend und auf der Forsthausstraße, interessierte sich für die Geheimnisse der aufmüpfigen Dreizehnjährigen, und sie interessierte sich für deren Freundinnen, die ebenso anstrengend und vorlaut waren wie sie. Diese wunderbare große Schwester ließ sich gar alles von Fräulein Kranichstein berichten, der immer noch angebeteten Deutschlehrerin.
    Wenigstens das Rätsel der plötzlich entflammten Geschwisterliebe war leicht zu lösen. In den Stunden mit Alice war auch Victoria wieder dreizehn Jahre jung, ein niedlicher Backfisch mit Rehaugen und Grübchen, der das Leben für eine nie endende Lustbarkeit hielt. In Alicens Gegenwart wurde aus Victoria mit den ermordeten Träumen und den verbrannten Illusionen und der Angst vor einer Schwangerschaft noch einmal Vicky, das bezaubernde Glückskind, für das es Sterne vom Himmel regnete.
    In den Nächten weinte sich die neue Victoria in den Schlaf. Sie würgte an ihrem Frühstück herum und fürchtete jeden Morgen aufs Neue, ihre Mutter oder Josepha würden ihre Übelkeit bemerken. Sie las, was sie ihrer Lebtag nicht getan hatte, sämtliche Zeitungen, die ins Haus kamen – selbst die Wirtschaftsberichte, von denen sie noch nicht einmal die Überschriften verstand. Sie schleppte, bis Erwin sie einen Blaustrumpf nannte und Clara sie nur noch als »Fräulein Doktor« anredete, Bücher über Psychologie, persische Mythologie und europäische Kulturgeschichte an. Einmal erkundigte sie sich gar nach dem Pensionat für höhere Töchter in Montreux, auf dem einst ihre Mutter gesellschaftlichen Schliff erhalten hatte.
    »Ich kann mir wahrhaftig nicht vorstellen, dass es einem Mädchen deiner Generation dort zusagen würde«, mutmaßte Frau Betsy, »wir wollten ja kochen und sticken und in Französisch parlieren lernen, um den Mann fürs Leben zu finden. Ihr wollt aber auch noch von ihm auf Händen getragen werden, und das ein Leben lang.

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