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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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grün gekachelten Blumenhocker und erfreute die ganze Familie mit seinen zarten lila Blüten, der Buckelkaktus überbot ihn mit butterblumengelben. Die beiden Zimmerazaleen, die im Frühjahr die Hüterin des Heims an ihrem berühmten grünen Daumen hatten zweifeln lassen, standen in voller Blüte. Auf dem Paradiesbild von Lucas Cranach reichte Eva mit blonden Zöpfen und einem Feigenblatt, das wenig Wesentliches verhüllte, aufmerksam von einem sanft blickenden Löwen beobachtet, einem zaudernden Adam den Apfel. Noch waren die beiden Unschuldsmenschen mit Augen, die nur Gutes gesehen, noch wussten sie nichts von der Sünde.
    »Ist das Bild neu?«, wunderte sich Victoria.
    »Brandneu«, nickte Frau Betsy, und einen Augenblick sah sie so aus, als erinnerte sie sich, welche Bedeutung ein Lächeln im Leben einer Frau hat, »es hängt erst seit zehn Jahren hier.«
    »Weißbrot und Rotwein«, rief der Papagei. Auch der gefiederte Otto hatte eine Vergangenheit. Tante Jettchens Ehemann, dessen Leben er ja ursprünglich geteilt hatte, war Sanitätsrat gewesen und hatte seinen Patienten bei sämtlichen Krankheiten, selbst bei verstauchten Knöcheln und Brandwunden, Weißbrot und Rotwein verordnet. »Den Rotwein«, versprach Victoria dem aufgekratzten Vogel, »bringst du mir heute Abend, Monsieur.«
    Es wurde Mitternacht, ehe sie die Schlussbilanz zog. Ohne sich zu schonen, machte sie sich klar, dass sie keine Sekunde der vierundzwanzig Stunden von Berlin je aus der Chronik des Grauens würde tilgen können. Die Wut, die sie ansprang, umklammerte sie wie ein ausgehungertes Tier seine Beute. Der zerfetzende Zorn versengte ihren Körper mit einem tödlichen Höllenfeuer. Sie glaubte zu ersticken, wurde steif und verdorrte. Und doch war dieser unmäßige Zorn ihr Retter. Er gab ihr die Kraft zurück, die sie noch am Morgen für immer verloren gewähnt hatte. Nach und nach und Stück für Stück begann eine neue Zeitrechnung. Victoria sah sich nicht mehr als Opfer, sie war nicht mehr eine, die sich duckte und der die Rechtschaffenen Vorhaltungen machen durften. Sie war kein erschrockenes, vom Teufel verführtes Bürgermädchen, auf das die Welt bis zum Jüngsten Tage mit dem Schandfinger zeigen würde. Sie war keine Flüchtende mit gebeugtem Rücken. Victoria war zwanzig Jahre jung, sie war schön und mutig, sie stand am Anfang ihrer Lebensreise und war unterwegs zum Gipfel.
    Strampelnd befreite sich Victoria von dem schweren Federbett. Sie stieß es mit dem ordinärsten Fluch, den sie kannte, in Richtung Frisierkommode, streckte sich katzengleich, wie sie es immer getan hatte, stand auf und wurde sich bewusst, dass sie nicht mehr befürchtete, sie würde straucheln und fallen. Sie fühlte sich freier als seit Tagen, erfrischt und erlöst. In diesem kurzen, berauschenden Moment von Jubel und Sieg hätte weder Freund noch Feind der lebensfrohen Victoria Sternberg den Glauben nehmen können, dass sie schon am nächsten Morgen damit beginnen würde, ihr altes Leben wieder aufzunehmen.
    Sie zog die Gardinen zurück und machte beide Flügel des Fensters auf. Wie es die liebenden Frauen in ihren alten Jungmädchenbüchern und nun auch im Kino taten, starrte Victoria in die Tiefe. Dem romantischen Bild fehlten nur die gewellten Haare, die bis zu den Schultern reichten und verführerisch im Nachtwind wehten, und es fehlten auch ein dünn verschleierter Mond und der üppige Sternenglanz. Der Himmel über Frankfurt war verhangen, die Luft noch schwer von der Tagesschwüle. Victoria rieb sich die letzten Körner des Zorns aus den Augen. Noch immer wähnte sie, sie könnte neu beginnen; ungeduldig wartete sie auf das Zeichen, das Erlösung versprach.
    Doch es verging der Jubel, und es verlosch der Glanz. Die, die es traf, konnte nicht ausmachen, ob es die Einsamkeit war, die sie am meisten quälte, oder die Bestürzung, dass ihre Träume und Zukunftshoffnungen einen so schmählichen Tod gestorben waren. Zwar gelang es ihr in dieser Stunde zwischen Nacht und Tag, noch einmal der Verzweiflung zu entkommen, aber da hatte sie bereits begriffen, dass für eine, die so tief herabgestürzt war wie sie, Sicherheit nie mehr eine Gnade von Dauer sein würde.
    »Rausch«, flüsterte Victoria, »nur ein Rausch.« Betreten, als könnten sie die missgünstigen Geister der Nacht belauschen, strich sie mit der Rechten über Brust und Bauch. Die Angst, die sie durchströmte, fühlte sie als körperlichen Schmerz. Panik drückte ihr die Kehle zu. Sie nahm sich

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