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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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»Buletten«.
    Endlich gab es im Haus wieder einen, der sich in seiner Vaterstadt auskannte. Der brachte Claudette bei, dass Kaiser Karl der Große bei einem in Frankfurt abgehaltenen Reichstag den Ebbelwein erfunden hatte, als er sich versehentlich auf den Reichsapfel setzte. Und für seine Josepha rezitierte der liebenswürdige Bub, der er einst gewesen war, Friedrich Stoltzes Gedicht vom richtigen Umgang mit der Bratwurst:
»So e Bratworscht muss indesse
jeder ohne Gawel esse;
nor die rächte Hand und linke
sind als Gawle mit fünf Zinke
noch gestatt – und des is gut,
weil sich kääns da steche duht.«
    Die grauhaarige Köchin saß am Küchentisch, ihr Hätschelbub auf dem Hocker, den er früher gebraucht hatte, um an die Schublade mit den Rosinen und dem Orangeat zu kommen. Sie weinten beide ein bisschen und hielten das Salz, das sie schmeckten, für Zucker. »Wenn uns jemand hier sieht, lässt er uns in die Klapsmühle einliefern«, sagte Erwin.
    Es war, als hätte dieser früh gealterte, von Enttäuschungen, Bitterkeit und Alkohol gezeichnete Mann im Jungbrunnen gebadet. Am Ende war es doch kein Zufall, dass er das Werk von Lucas Cranach dem Älteren, in dem der fränkische Meister das Wunder der Verjüngung unsterblich gemacht hat, besonders liebte. Er suchte das Bild für Anna aus einer Kunstgeschichte heraus; sie wurde rot und sagte »Ach« und wusste nicht, weshalb.
    Erwins Aussehen und vor allem seine Laune entsprachen wieder seinem Alter, seine Bewegungen waren nicht mehr fahrig, die Augen klar, die Reden weniger zynisch und der Humor nicht mehr bissig. »Er sieht jetzt wie ein junger Mann aus, der sich für einen Künstler hält«, befand Johann Isidor, »nicht mehr wie eine Mischung aus Hofnarr und Bürgerschreck.«
    Der Meister der Andeutungen war überaus zufrieden. Zwar gab er in den Gesprächen mit Betsy vor, ihm wäre es nicht aufgefallen, dass die Gespräche zwischen ihm und seinem Sohn zum ersten Mal seit der Zeit von Erwins Barrikadenstürmen frei von Häme und geprägt vom Verständnis füreinander waren. Nacht für Nacht aber dankte der Mann, dem dieses Vaterwunder widerfahren war, dem Vater im Himmel, dass er es hatte geschehen lassen. Es war ein Nehmen und Geben in der neuen Harmonie, die das Klima bestimmte, wenn die Herren Sternberg im Salon saßen, ihren Rücken in die Ledersessel mit den hohen Lehnen drückten und Versäumtes nachholten. Noch ehe die erste Zigarette ausgedrückt wurde, wurde aus dem Lächeln des Einverständnisses das Männergrinsen von Kumpanen.
    Johann Isidor und der Sohn, den er so vorschnell aufgegeben hatte, sprachen viel über die Entwicklung in Deutschland; es tat ihnen wohl, dass sie über die Rechten und über die Linken einer Meinung waren und dass sie die Zukunft mit der gleichen Sorge sahen und sich keine Illusionen machten. Beide spürten sie, dass ein besonderer Segen über diesem späten Gleichklang der Seelen lag, doch sie hüteten sich, den neuen Zauber durch das Wort zu vernichten.
    Was dem Vater entging, weil er ein Mann war und nur das aufnahm, was er sah und was sich anfassen ließ, offenbarte sich der Mutter. Sie fühlte, dass Erwin genau wusste, was Victoria in Berlin widerfahren war und was sie weiter quälte. Ihr fiel auf, wie beunruhigt er die Schwester beobachtete und dass er sie, als sei sie ein verängstigtes Kind, bei jeder sich bietenden Gelegenheit lobte, und dies für Nichtigkeiten. Wenn Betsy daran dachte, dass sie Erwin immer als das schwierigste ihrer Kinder bezeichnet hatte, schämte sie sich.
    Waren die Geschwister allein, redete Erwin mit Engelszungen auf Victoria ein, dass sie sich nicht vom Leben zurückziehen dürfe. »Und von den Männern«, sagte er jedes Mal. »Du kannst nicht den einen Schurken für die ganze Gattung haftbar machen. Wenn das alle Frauen täten, wäre die Menschheit längst ausgestorben.«
    Anfangs wehrte sich Victoria mit Krallen und Knurren. Ihre unliebenswürdige Art hätte jeden außer ihren Bruder in die Flucht geschlagen. Sie hatte nie ein nachgiebiges Naturell gehabt, Vernunft und Einsicht waren für sie nicht die Messlatte der Dinge. Nun gaukelten ihr ihre Widerspenstigkeit und ihr kindlicher Trotz einen bleibenden Schutz vor neuen Enttäuschungen vor. Auf die Dauer aber war Victoria Erwins hartnäckigen Attacken doch nicht gewachsen. Es waren seine Logik und sein Humor, die die Schlacht entschieden. Eines Abends fand Victoria einen Zettel auf ihrem Kopfkissen. »Kein Mann, der das Herz einer Frau

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