02 Die Kinder der Rothschildallee
Das kann man nicht lernen. Nirgends.«
»Dann findest du wahrscheinlich auch Nähkurse sinnlos. Einige aus meiner alten Klasse haben sich in einem Institut in Sachsenhausen angemeldet, von dem man sich Wunderdinge erzählt«, sagte Victoria zum erneuten Erstaunen ihrer Mutter.
»Was kann an einer geraden Naht oder an einem gelungenen Knopfloch schon ein Wunder sein? Ich finde, es würde reichen, wenn du dir deine Strümpfe nicht von Josepha stopfen lässt. Ihre Augen machen nicht mehr mit. Ihre Hände übrigens auch nicht.«
Für ihre Nichte hatte Victoria noch mehr Zeit als für ihre kleine Schwester. Sie brachte Claudette zur Ballettstunde und begleitete sie zum Klavierunterricht, ging mit ihr auf sämtliche Spielplätze zwischen der Günthersburgallee und dem Holzhausenpark, half ihr, wenn Clara nicht zu Hause war, um es zu verbieten, bei den Schulaufgaben und häkelte sämtlichen Puppen Mützen mit passenden Strümpfen. Keinen Kinderfilm ließen die beiden aus und nie ein Marionettentheater. Abends las die perfekte Tante aus einer Kinderfassung der »Ilias« vor, und gelegentlich vergaß sie, dass das Theater nicht mehr ihre Welt war. Eingehüllt in eine kornblumenblaue Seidenstola und mit einer Stimme, die sich darauf verstand, ein Kind fürs Leben zu verzaubern, rezitierte sie die großen Theatermonologe.
Es war ein Septemberabend voller Sommersüße, an dem die neunjährige Claudette erstmals von dem Elfenkönig Oberon erfuhr, der seinen Diener Puck ausschickte, um die Wunderblume zu suchen. »Deren Saft auf entschlafene Wimpern geträufelt«, wusste Victoria, »erweckt bei Mann und Weib in jeder Kreatur die Liebe.«
»So etwas Schönes werde ich nie wieder hören«, schwante es Claudette.
Für die erste Begegnung mit Shakespeare revanchierte sie sich bei ihrer Tante mit einem Verrat an ihrer Mutter. Flüsternd erzählte sie von dem Mann ohne Namen, der am späten Abend mit Negerküssen für sie und »einem Zaubertrank für meine Mami« vor der Tür stehen würde und von dem nur ihre Mutter und sie selbst wissen dürften.
»Er hat«, berichtete die Verschwörerin mit der früh ausgeprägten Beobachtungsgabe, »nur einen Fuß und einen ganz, ganz steifen Arm. Man kann ihn zwicken, ohne dass er schreit. Er zappelt noch nicht einmal. Aber warum weinst du denn, Tante Vicky? Ihm tut das nicht weh, sagt er. Er hat gesagt, ihm kann gar nichts mehr wehtun.«
Wenn Victoria glaubte, sie könnte die Spannung ihres Lebens keinen Augenblick mehr aushalten und sie müsste auf der Stelle dem Käfig entkommen, in dem sie aus freien Stücken hockte, ging sie mit Erwin spazieren. Die beiden wanderten am Main und am Lohrberg, fuhren mit der Tram in den Stadtwald, nach Oberursel und Bad Homburg. Sie lachten viel und genossen es, dass sie es konnten. In der Natur waren sich Bruder und Schwester, der Tröster und die Trostbedürftige, absolut sicher, dass sich jede Widrigkeit des Lebens mit spitzer Zunge und einem stählernen Herzen meistern ließ. Trotzdem kam Victoria mit betrübtem Gesicht und eingezogenen Schultern nach Hause. Hatte, fragte Frau Betsy ihren Mann, die Sorgentochter nicht nur ihre Lebensfrische verloren, sondern am Ende auch ihre Illusionen und Hoffnungen aufgegeben?
»Vielleicht«, mutmaßte der kluge Vater, »hat sich unser Fräulein Tochter nun endlich ihre meschuggenen Vorstellungen vom Leben aus dem Herzen gerissen. Warum sollen wir nicht auch mal Glück haben? Sieh dir unseren Sohn an.«
Erwins wundersame Verwandlung fiel nicht nur der Familie auf. Vom Balkon aus erneuerte er seine Kinderkontakte zu den Bewohnern der Nachbarhäuser. Er winkte Menschen auf der Straße zu, die er gar nicht kannte. Im Hausflur schlich er sich nicht mehr an den Mietern vorbei– er grüßte sie herzlich und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sein Tonfall entledigte sich des Berlinerischen und nahm wieder die ursprüngliche Frankfurter Färbung an. Die Sprache wurde wieder weich. Den Ohren von Ortsfremden mochte sie nachlässig und bäurisch erscheinen, weil die Endsilben verschluckt wurden und die Grammatik nicht stimmte, doch die Frankfurter mochten es, wenn Sprache so gemütlich war wie das Leben nach dem vierten Glas Ebbelwein. Erwin sagte nicht mehr »Sonnabend«, wenn er Samstag meinte. Josepha war die Erste, der es auffiel, dass er ihren Frankfurter »Quetschenkuche« nicht mehr hochdeutsch als Pflaumenkuchen verhöhnte. »Kreppel« nannte er nicht mehr »Pfannkuchen«, »Frikadellen« nicht mehr
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