02 Die Kinder der Rothschildallee
eines stadtbekannten Rechtsanwalts in der Biebergasse. Den Doktortitel, der das Eintrittsbillett in das Heim begüterter jüdischer Bürger mit Töchtern im heiratsfähigen Alter war, hatte er auch. Erwin mit seinem ausgeprägten Erkennungsvermögen für Stimmen, erinnerte sich sofort, dass er und Doktor Feuereisen sich früher bereits begegnet waren, und zwar mehrmals. Beide hatten als Obersekundaner die Veranstaltungen der Jüdischen Gemeinde besucht, in denen gegen die diffamierenden Judenzählungen im deutschen Heer protestiert wurde.
Die Herren tauschten – im Stehen und mit Vergnügen – die Erinnerungen aus, die ihnen geblieben waren. »Vielleicht könnten wir uns mal in Ruhe treffen«, schlug Doktor Feuereisen vor. Eine rot berockte Kellnerin mit einer voluminösen Schleife im Haar hatte ihn mittels einer Auswahl von Petits Fours, die alle mit Silberperlen und winzigen Fähnchen in den deutschen Farben geschmückt waren, zurück an den eigenen Tisch gelockt. Es gab keinen Zweifel, dass der Liebhaber süßer Versuchungen das Wort an Erwin gerichtet hatte, doch es war Victoria, die er beim Sprechen anschaute.
Der Bewunderten ging nur wenige Tage nach diesem unbeschwerten Fest der Erlösung auf, dass ihr Jubel schnell verwelkt war; sie kannte den Grund, und das seit Wochen, aber erst im Schutz einer dunklen Nacht fand sie den Mut, sich ihrem Bruder anzuvertrauen. Auf dem Heimweg vom Kino – die romantische Stimmung nach dem herrlichen Ernst-Lubitsch-Film »Alt-Heidelberg« begann gerade nachzulassen – blieb Victoria in der Günthersburgallee stehen. Vor dem stolzen Bürgerhaus mit Giebeln, Erkern und phantasievoll verzierten Balkons, vor dem sie als Achtjährige mit ihrer Freundin Mariechen Hickelkreise gemalt hatte, um Himmel und Hölle zu spielen, sagte sie entschlossen »Jetzt« und noch resoluter »doch«. Dann, die Stimme gesenkt, als hätte jeder Baum in der Allee geschworen, das Geheimnis der Sünderin Victoria Sternberg in die Welt zu posaunen, druckste sie: »Merkt eigentlich jeder Mann in der Hochzeitsnacht, wenn er nicht der Erste im Leben seiner Frau ist?«
»Wenn er sturzbesoffen ist, bekommt er das nicht so richtig mit. Jetzt sag nur, dass du auf der Suche nach einem Gewohnheitstrinker bist, der die Verantwortung für dein Leben übernehmen soll! Oder nach einem Quartalsäufer. Vergiss es, Schwesterchen. Juden saufen nicht. Sie trinken noch nicht einmal. Sonst bräuchten sie nicht eigens den Befehl, dass sie zu Pessach vier Gläser Wein zu trinken haben. Ich bin da die große Ausnahme, und selbst mir schmeckt der Alkohol neuerdings nicht mehr so richtig.«
»Ich hab’s ernst gemeint.«
»Ich auch, Vicky. Bitterernst. Allerdings bin ich bis zu diesem Augenblick überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass du daran denkst, sowohl deine Bühnenlaufbahn für immer sausen zu lassen, als auch deinen Familienstand zu verändern. Ich finde beides richtig. Und einer Tochter aus dem Hause Sternberg würdig. Das Risiko, in einer Ehe unglücklich zu werden, ist weiß Gott nicht größer als anderswo. Nur wirst du nie den passenden Ehemann finden, wenn du zu Hause hockst und Puppenkleider häkelst und in den Wirtschaftsteil der ›Frankfurter Zeitung‹ glotzt. Komm, wir setzen uns drüben auf die Bank. Es gibt Dinge, die man nicht im Stehen besprechen sollte.«
»Ich hock’ zu Hause, weil ich eine Mordsangst habe, ihn irgendwo zu treffen. Das könnte ich nicht durchstehen.«
»Vergiss den Mistkerl, Vicky. Es gibt genug Örtlichkeiten in dieser Stadt, wo sich so einer noch nicht mal mit einem Fuß hintraut. Oder glaubst du, er speist in unserem Lokal von neulich Jambon Rothschild? Oder geht in der Freßgass einkaufen? Und in die Synagoge geht er auch nicht. Noch nicht einmal in die Kaffeehäuser, in die ich dich ab sofort führen werde, damit du wenigstens wieder begreifst, wie ein Mann aussieht und wofür man ihn verwenden kann, wenn man so aussieht wie du und eine solche Mitgift zu erwarten hat, wie du sie bekommst. Lass deinen Bruder nur machen. Das ist eine Ehrenpflicht. Es steht schon in der Bibel, dass ein Bruder dafür zu sorgen hat, dass seine unversorgte Schwester heiratet.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich heiraten will?«
»Ach, weißt du, ich bin zum Schadchen geboren. Ich hab schon mit fünf Jahren Claras Puppen verheiratet. Und ihren Teddy mit meinem Esel. Ich hab’s einfach im Gefühl, wer zu wem passt.«
»Und was, bitte, ist ein Schalchen?«
»Schadchen, du Schaf. Ein
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