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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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bricht, ist nur eine ihrer Tränen wert«, hatte Erwin in seiner kräftigen, nach links neigenden Schrift geschrieben. Victoria lachte so laut und spontan, als wäre ihre Welt nie aus den Fugen geraten.
    Die Botschaft auf dem Kopfkissen leitete die große Wende ein. Schon am nächsten Tag zogen Bruder und Schwester los. Sie planten ihren Kampf um neue Lebensperspektiven wie Generale die Schlachten; schon wenn sie die Höhenstraße erreichten, hielten sie Ausschau nach der Zukunft, registrierten Zufälligkeiten und analysierten Besonderheiten. Sie kicherten wie Halbwüchsige und wirkten wie ein fröhliches Liebespaar. Die kecke Fröhlichkeit ihrer Kindertage spazierte mit.
    »Er ist wirklich fürsorglich geworden«, meinte Betsy, als sie einen typischen Abgang der beiden beobachtete.
    »Das war er immer«, erinnerte sie Josepha. »Nur wollte das außer mir keiner hier sehen. Der Bub hat sich schon als Fünfjähriger rührend um sein Schwesterchen gekümmert.«
    »Er war acht, als Victoria geboren wurde«, stellte Frau Betsy klar, »und er hat ihr nicht die Butter aufs Brot gegönnt. Von der Erdbeermarmelade und seinem Stoffesel ganz zu schweigen.«
    Auch Clara kommentierte Erwins Verwandlung. »Du gehst ja voll in deiner Rolle als Victoriapapi auf«, stichelte sie. »Haben sie dich denn in Berlin komplett umgemodelt?«
    »Komplett«, bestätigte Erwin, »aber nicht in Berlin.« Er war immer noch immun gegen Claras Spitzen. »Weißt du«, erklärte er, »dein Bruder befindet sich in einem ganz neuen Entwicklungsstadium. Es ist das allererste Mal in seinem früh verpfuschten Leben, dass er gebraucht wird. Ich wache morgens auf und denke nicht an mich. Und abends gehe ich ins Bett und denke immer noch nicht an mich. Derzeit interessiert es mich auch keinen Pfifferling, ob und wann ich je wieder einen Pinsel in die Hand nehme. Altruismus ist wie eine doppelte Prise Koks. Oder wie ein schönes nacktes Mädchen im Bett. Gebraucht zu werden hilft in jeder Lebensphase. Besonders bei Einsamkeit und Weltschmerz. Wahrscheinlich auch bei bevorstehendem Suizid.«
    »Sieh mal einer an, mein verkannter Bruder! Der passionierte Egoist. Und warum glaubst du, bin ich nicht in den Main gegangen, als Claudette geboren wurde und ihr feiner Vater ›Wir sollten uns Zeit lassen‹ sagte? Weil das Kind mich gebraucht hat, hab ich das alles durchgestanden. Vaters Zorn, Mutters Verzweiflung und die geballte Verachtung aller germanischen Spießer mit Ausnahme von Josepha.«
    »Und ich hab immer gedacht, du bist nicht ins Wasser gegangen, weil du so gut schwimmen kannst. Ich hab mir sagen lassen, da ist Ertrinken ein Problem.«
    »Ach, Erwin, kannst du denn nie ernst sein?«
    Zwei Wochen vor Beginn der hohen jüdischen Feiertage wurde Victoria von der Angst erlöst, sie könnte schwanger sein. Jede der drei Wochen Panik und Beschämung hatte sie ein Kilo Gewicht gekostet – und auf Lebenszeit ihren Stolz und Mut. Am Tag ihrer Befreiung schrieb sie morgens um sieben in winziger Spiegelschrift in ihr Tagebuch: »Danke!« Dazu malte sie, wie es Kinder tun, aus Punkt, Komma und Strich ein lächelndes Mondgesicht. Zum Frühstück bat sie um zwei Eier im Glas, obgleich es ein Dienstag war und bei der Familie Sternberg nur sonntags Eier zum Frühstück gegessen wurden. Der Hausherr registrierte ein wenig irritiert den zurückgekehrten Appetit seiner Tochter, in Anbetracht ihrer gerade überstandenen Krankheit wagte er jedoch weder Rüge noch Kommentar. Josepha weinte, als sie die Eier schälte, ein Dankgebet zum Himmel sprach und einen der nagelneuen Hornlöffel einweihte. Auch Frau Betsy, die mehr als nur einen erleichterten Seufzer verschlucken musste, wusste sofort Bescheid.
    Am frühen Nachmittag spazierte das davongekommene Fräulein Sternberg die Berger Straße hinunter, durch die schöne Grünanlage hinter dem Gericht und auf die Zeil, beschwingt und vom Glück berauscht. Sie kaufte die feinsten Seidenstrümpfe, die sie fand, dazu einen neuen Strumpfbandgürtel mit schwarzer Spitze, einen kniekurzen plissierten weißen Rock, der Luftsprünge bis zum Himmel und zurück ermöglichte, und einen cognacfarbenen Glockenhut mit kleiner Krempe. Zwar ähnelte er dem sehr, der in Berlin zurückgeblieben war, erweckte aber seiner Farbe wegen keine unliebsamen Erinnerungen.
    Als Victoria ihrem Spiegelbild in der Schaufensterscheibe eines Schuhgeschäfts begegnete, verließ sie ihr neuer Elan. Ihr Gesicht war papierblaß, sie hatte dunkle Ringe unter den

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