02 Die Kinder der Rothschildallee
Augen und den Körper einer Vierzehnjährigen. Erst da wurde ihr bewusst, wie wohltuend und diskret sich ihre Eltern während der letzten drei Wochen verhalten hatten. Keine der üblichen Fragen, keine Vorwürfe, keine unterschwelligen Drohungen und nicht eine einzige Bemerkung, dass ihre Schwester Anna so viel mehr vom Ernst des Lebens begriffen hätte als sie, nur Hühnersuppe, Rotwein mit Ei, viel Rücksicht und noch mehr Elternliebe.
Einem plötzlichen Impuls folgend, kaufte Victoria ihrer Mutter, die sämtliche Beiträge des Schriftstellers Ernst Glaeser in der »Frankfurter Zeitung« las und große Stücke auf seinen Erstling »Überwindung der Madonna« hielt, sein soeben erschienenes Buch »Jahrgang 1902«. Für ihren Vater erwarb die dankbare Tochter ein Zigarettenetui im Art-deco-Stil. Am nächsten Tag rührte das teure Präsent Johann Isidor über alle Maßen, auch wenn er es, wie sonst auch, selbst bezahlen musste, indem er Victorias Börse auffüllte. »Bleibt das ein Leben lang so?«, fragte er seine Frau.
»Sie ist doch erst zwanzig«, entgegnete Betsy. »Da kannst du nicht erwarten, dass sie schon verheiratet ist und dich nichts mehr kostet.«
»In dem Alter war unsere Tochter Clara schon Fräulein Mutter.«
»Ja, willst du das denn noch mal durchmachen?«
Abends ging Victoria – in einem gerafften Taftkleid, das ihre Magerkeit geschickt verhüllte, und mit viel Rouge auf den Wangen – mit Erwin und Clara in ein kürzlich eröffnetes Lokal in der Kaiserstraße. Das noble Restaurant mit weiß lackierten Möbeln und einer königsblauen Zimmerdecke, in die eine Unzahl von kleinen Lampen eingelassen war, die sternenhell strahlten, galt als der allerletzte Schrei im Bilderbuch der Avantgarde. Das Etablissement bot sowohl internationale als auch völlig unbekannte und sehr exotische Speisen an und einmal in der Woche die eigenwilligen Vorstellungen des elsässischen Chefkochs von moderner Hausmannskost. Die Speisen wurden sogar im Frankfurter »General-Anzeiger« erwähnt, beispielsweise Linsensuppe mit Streifen von Entenbrust oder Bratwurst in einer Soße aus Backpflaumen und frischem Paprika. Serviert wurden die Küchenkreationen von jungen athletischen Kellnern, die wie hellenische Diskuswerfer aussahen, und auch von Kellnerinnen. Die jungen Frauen waren entweder ziemlich misslungene Kopien der viel bewunderten Filmschauspielerin Jenny Jugo, oder sie waren wie die koketten Nummerngirls im Varieté herausgeputzt.
Alle drei Geschwister Sternberg hielten Gaumenexperimente für einen Beweis von Lebenskunst und Aufgeschlossenheit. So aßen sie mit dem Gleichmut der gehobenen Gesellschaft in Grappa flambierte Hummermedaillons mit Safranfäden und Ingwerstückchen. Es folgte eine indische Mulligatawnysuppe, von der auch der streng befragte Kellner nicht zu sagen vermochte, wie sie auszusprechen war, und schließlich wurde gekochter Schinken serviert – mit Gänseleberpüree und Trüffeln bestrichen und auf der Speisekarte ausgerechnet als »Jambon Rothschild« aufgeführt. Bei Erwin löste die Sprachkomposition einen Anfall von Atavismus aus. Er grunzte fortwährend vor sich hin und fragte, als schließlich der Kellner besorgt herbeieilte, recht laut nach »gefilte Fisch«.
Am Nachbartisch saß ein dunkelhaariger junger Mann, auffallend groß und wie ein englischer Gentleman gekleidet. Selbst seine Krawatte hatte er zum berühmten Windsorknoten des englischen Thronfolgers gebunden. Er hatte die drei munteren Geschwister schon seit der Mulligatawnysuppe eingehend beobachtet; als der Kellner, ein wenig stammelnd und entsprechend verdrossen zu erklären versuchte, weshalb das Haus keinen »gefilte Fisch« führte, war es um den Gast am Nachbartisch geschehen. Jedes Wort, das der Kellner sagte, löste einen neuen Heiterkeitsausbruch aus, und nur sehr allmählich wurde dem Gentleman mit dem Windsorknoten bewusst, dass ihn sowohl die übrigen Gäste als auch der Maître des Gourmettempels, der mit einem silberfarbenen Sektkübel stilbewusst an einer Säule stand, befremdet anstarrten. Bestürzt schaute der junge Mann, für den sonst Zurückhaltung das elfte Gebot war, auf seinen Teller. Ein wenig zögerlich ließ er den Rest seiner geschmorten Hammelkeule im Stich, stand auf und ging mit flammendem Gesicht, die Serviette versehentlich in der Hand, zum Nachbartisch. Dort entschuldigte er sich wortreich und stellte sich schließlich vor.
Er hieß Friedrich Feuereisen und war seit dem Frühjahr Juniorpartner
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