02 Die Kinder der Rothschildallee
dem Kind die Laune.«
Mit Claudettes Laune stand es zum Besten. Ihr Tanzstundenherr, ein wohlerzogener, sportlicher Jüngling aus reichem Hause, der in seiner Freizeit Breeches und Tweedjacken trug, die der Vater eigens aus Edinburgh kommen ließ und um den sämtliche Freundinnen Claudette beneideten, war ihr auch nach dem Abschlussball treu geblieben. Jeden Samstag holte Hans-Dieter Bergmann mit dem akkurat gezogenen Mittelscheitel sie von der Schule ab. Jeden zweiten Sonntagnachmittag führte er sie ins Kino und danach zur Käsesahnetorte in ein kleines Café in der Glauburgstraße, in dem hauptsächlich junge Leute verkehrten. Frau Friederici, die Leiterin der Tanzschule, hatte Claudette aufgefordert, im April als Gast am Fortgeschrittenenkurs teilzunehmen. Es hatten sich ausnahmsweise mehr junge Männer als Mädchen angemeldet. Höhepunkt der Glücksserie: Die Eltern einer Mitschülerin planten zu Pfingsten eine Reise nach Paris und hatten auf Drängen ihrer Tochter Claudette dazu eingeladen. Claudette war ebenso stolz wie erwartungsfroh. Allerdings stand ihr noch eine Herkulesaufgabe bevor. Es galt, ihre stets skeptische Mutter davon zu überzeugen, dass Elene von Kossigk und deren Eltern der richtige Umgang für sie wären. Clara hielt Elene für dumm und arrogant und die adeligen Eltern zumindest für antisemitisch angehaucht – bei jedem Elternabend pflegten die beiden Clara nach ihrem Namen zu befragen, um ihn sich stirnrunzelnd in ein mit Samt bezogenes Büchlein mit Wappen zu notieren. Claudette wurmte es, dass Erwin, der sonst immer bereit war, seiner Nichte beizustehen, seiner Schwester recht gab.
»Wo zum Weib du nicht die Tochter wagen würdest zu begehren«, zitierte der unloyale Onkel, »halte dich zu wert, um gastlich in dem Hause zu verkehren.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
»Das war Storm, mein unschuldiges Kind. Wenn du einem deutschen Dichter vertrauen kannst, dann ist es Storm.«
»Ich will Elene nicht heiraten«, parierte die Nichte, »ich will mit ihr nach Paris fahren.«
Am letzten Tag des Jahres stellte sich heraus, dass Claudette keinen Grund hatte, entgangener Silvesterfröhlichkeit nachzuweinen. Sie lag mit hohem Fieber im Bett, den Hund im Arm, einen feuchten Wickel um den Hals, und warf sich, was sie noch nie getan hatte, mit heißem Kopf ihre Verfehlungen und Sünden vor. Abends um acht aß sie trotzdem drei von Josephas Kreppeln. Allerdings erschienen ihr die weniger süß als sonst und das Pflaumenmus zu fest; das doppelte Malheur interpretierte sie als ein böses Omen und auch als eine speziell an sie gerichtete Warnung. Erschrocken fasste sie den Entschluss, im neuen Jahr mindestens eine Stunde täglich an ihren Hausaufgaben zu sitzen und endlich, wie schon vor Wochen von der Deutschlehrerin der Obertertia verlangt, Goethes »Egmont« zu lesen. Die Jahreswende und das Glockengeläute, das die erste Stunde willkommen hieß, verschlief die reuige Patientin. Sie träumte von Paris und der Liebe und dass sie mit goldenen Sandalen um den Eiffelturm tanzte. Am Morgen, bereits auf dem Wege der Genesung, erzählte sie Snipper, dem schweigsamen Hund, sie würde nie vor der Ehe mit einem Mann ins Bett gehen. »Nicht wegen der Moral«, erklärte die kluge Frühreife, »sondern wegen der Kinder.«
Ihr Großvater erholte sich ebenso unerwartet rasch von seinen körperlichen Malaisen. Zerknirscht stellte er fest, dass er durchaus imstande gewesen wäre, auf das alte Jahr einen Schluck Sekt zu trinken. Bei der ersten Tasse Kaffee im Jahr 1933 schämte er sich, dass er überhaupt nicht versucht hatte, sich gegen seine Ängste und Ahnungen zu wehren, und dass er so seine Familie um ihre gewohnten kleinen Feiertagsfreuden gebracht hatte. Die Presse, an die er glaubte wie einst im August 1914 an seines Kaisers Wort, stimmte ihn zuversichtlicher als seit Monaten.
Hoffnung war für Johann Isidor Sternberg und alle, die an das Land der Dichter und Denker glauben wollten, das Gebot der Stunde. Schließlich verkündeten auch Reichspräsident Paul von Hindenburg und Reichskanzler Kurt von Schleicher Optimismus. Frau Betsy legte ihm die Ausgabe der »Frankfurter Zeitung« vom 1. Januar 1933 mit dem Vermerk »Na also!« – mit Rotstift unterstrichen – ins Arbeitszimmer. Mit wärmender Freude las ihr Gatte: »Der gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den demokratischen Staat ist abgeschlagen … Das Leben selbst hat uns gezwungen, zu dem zurückzukehren, was so viele
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