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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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noch sechsunddreißig Stunden und zwanzig Minuten beschieden. »Uns ist nicht nach Feiern zumute.« Seine Augen waren gerötet, die Lippen aufgeplatzt und die Stimme belegt.
    »Armer, trauriger Opabär«, bedauerte ihn Claudette. Mit dem Kosewort ihrer Kindertage spulte sie das Leben um Jahre zurück und lockte sich selbst in die Falle. Claudette hatte oft Sehnsucht nach der unbeschwerten Zeit der Puppen und Märchen und dem kleinen, rot angestrichenen Kaufmannsladen, in dem Onkel Erwin – mit Stock und Hut – ein Pfund Mehl und drei Tüten Zauberzucker zu kaufen pflegte. Und manchmal auch eine Dose Rosenduft und einen Fingerhut voll Sternenstaub.
    Claudette entkam nur mit Mühe den Fangarmen der Nostalgie. Sie schüttelte ihren Kopf und rieb ihre Stirn glatt: Sie nahm an, einzig die starke Erkältung ihres Großvaters wäre der Grund für seine Missstimmung, und verspürte große Lust, ihn an das Sprichwort zu erinnern, mit dem er sie seit Jahren und zu ihrem Leid immer noch traktierte. »Eigenliebe macht die Augen trübe«, wollte sie zitieren. Da sie jedoch sowohl klug als auch diplomatisch war und weil Undankbarkeit ihrem Naturell so fernlag wie die kränkenden Bemerkungen, die anderen Mädchen in ihrem Alter so flott über die Lippen kamen, als wäre Herzlosigkeit ein Zeichen von Reife, lächelte sie allerliebst. Die Rücksichtsvolle deutete gar einen kleinen Knicks an.
    Channuka, das Fest von Licht und Kinderfreude, lag erst vierzehn Tage zurück. Der Großvater, dessen strenges Gebaren der jungen Jahre im Alter nur noch Tarnung für seine Nachgiebigkeit war, hatte der Enkeltochter, die über die Zauberkraft von Circe verfügte, trotz heftiger Proteste ihrer Mutter einen Herzenswunsch erfüllt. »Opabär« war unmittelbar vor Channuka mit »Claudetteche« ins Kaufhaus Wronker spaziert – um die neue Schultasche zu kaufen, die sie dringend brauchte. Eingepackt aber wurde ein weinroter Wollmantel mit Kragen und Gürtel aus weißem Kaninchenfell. Claudette hatte seit Herbstbeginn von dem Prachtstück geschwärmt und in regelmäßigen Abständen beteuert, sie würde sich nie mehr im Leben etwas wünschen, wenn sie den Mantel bekäme. Als Überraschung hatte der großväterliche Kinderverderber zwanzig Mark in die rechte Tasche gesteckt. Und einen kleinen silbernen Bären für das Bettelarmband in die linke. Claudette klimperte mit dem Armband. Sie brachte es nicht über sich, roh zu sein und einen solchen Mäzen darauf hinzuweisen, dass der Rest der Familie sich bester Gesundheit erfreute und zu Silvester bestimmt den üblichen Punsch und die traditionelle Heiterkeit vertragen könnte.
    Durch ihre familiäre Situation hatte Claudette ungewöhnlich früh einen Instinkt für Grenzen entwickelt, die zur Erhaltung des häuslichen Friedens nötig waren. Sie war ohnehin kein Backfisch, den es auf die Barrikaden trieb. Claudette wusste immer, wann sie zu schweigen hatte, wo Protest sinnlos war und dass die meisten Entscheidungen von der Zeit getroffen wurden. Obwohl sie gerade die Tanzstunde absolviert hatte und sich eine ganze Anzahl von Verehrern danach drängte, das umschwärmte Fräulein Sternberg zu einem der vielen Silvesterbälle einzuladen, die in Frankfurt stattfanden, hatte sie sämtlichen Bewerbern einen Korb geben müssen. Die Walzerkönigin aus der Rothschildallee 9 wurde erst im Juni fünfzehn – es war nicht daran zu denken, dass sie mit einem Mann ausgehen durfte, weder mit einem jungen noch mit einem älteren. Umso größer war ihr Verlangen, wenigstens das neue Jahr mit dem geliebten Grammofon und Frohsinn willkommen zu heißen. »Ich will mich doch, wenn ich alt bin, an 1933 erinnern können«, malte sie sich am Esstisch ihrer Großmutter aus, »an jede Minute. Von Anfang an.«
    »Ich werde mein Bestes tun«, versprach Josepha, »wenigstens auf meine Kreppel mit Pflaumenmus wirst du nicht verzichten müssen, Kind. Das wär’ ja noch schöner. Ohne Kreppel gibt’s doch kein süßes Jahr. Das weiß doch jeder.«
    »Es gibt auch so kein süßes Jahr«, seufzte der Hausherr, »das weiß auch jeder.«
    Frau Betsy goss ihm neuen Fliedertee ein. »Hör auf«, drängte sie, »hör endlich auf mit deiner ewigen Schwarzseherei. Ihr Männer seid doch alle gleich. Hätschelt euren Pessimismus wie ein Schoßhündchen. Sobald dieser verdammte österreichische Anstreicher auch nur den Mund zum Gähnen aufreißt, macht ihr euch ins Hemd. Nimm dich doch wenigstens zu Silvester zusammen und verdirb nicht auch noch

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