02 Die Kinder der Rothschildallee
arglosen Anna, die nur genießen wollte, dass sich in ihrem vierundzwanzigjährigen Leben zum ersten Mal ein Mann für sie interessierte, nicht vergönnt, länger als zwei Wochen im wolkenlosen Himmel der ersten Liebe zu verweilen. Noch ehe sie dazu kam, Erwin über den Zusammenhang zwischen Männern und Zeitgeschehen zu befragen, begriff sie aus eigenem Vermögen, dass Sepp Huber, wenn er »wir« sagte, grundsätzlich von den Nazis sprach. Noch ehe es dämmerte, wurde ihr klar, dass der stramme Jojo-Künstler aus Bayern keinen Fuß in die Rothschildallee 9 setzen würde. An dem Abend weinte sie sich in den Schlaf.
»Na, Anna«, sagte der Vater. Er zupfte sie am Kragen und lächelte in die Ferne. Trotz einer Frau, die mit Humor und der Fähigkeit gesegnet war, über sich selbst zu lachen, hatte Johann Isidor nie die Unbeschwertheit entwickelt, um einen Menschen zu necken. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, fragte er.
»Bei dir«, stammelte Anna. Auch sie verstand sich nicht auf die Leichtigkeit des Seins.
»Ich wollt, das würde meine große Enkeltochter auch sagen. Schau dir doch diesen Kindskopf an.«
Obwohl es Claudette verboten war, den Hund auf ihren Schoß zu lassen, wenn sie ihr blaues Taftkleid und die Seidenstrümpfe trug, die ihr der Großvater schon für die Tanzstunde im Herbst gekauft hatte, saß Snipper genau dort. Der Foxterrier hatte den gleichen Charme wie seine Herrin. Er genoss sein junges Hundeleben in hechelnden Zügen und leckte vom Zeigefinger ihrer Linken Josephas berühmte Schlagsahne ab, mit Vanillinzucker zubereitet und seit über dreißig Jahren das Entzücken aller Gäste im Hause Sternberg. Auch die alte Dame in der violetten Bluse, von der noch immer nicht feststand, wer sie eingeladen hatte, ließ es sich schmecken. Sie dachte an einen lockigen Jüngling, der gesagt hatte, Kaffee müsse schwarz wie die Nacht, heiß wie die Hölle und süß wie die Liebe sein, und sie seufzte sehr.
Der Hundegourmet wedelte mit dem Schwanz und bellte in den hohen Tönen seiner Welpentage. Das Geburtstagskind, das den Ball mit dem Frankfurter Wappen leid geworden war, jubelte mit. Es hatte apfelrote Backen und Schokolade um den Mund. Victoria streichelte ihr vergnügtes Kind mit einem Finger, an dem ein Brillantring mit Rubinen glänzte. Jedoch war sie weit weniger vergnügt, als sie am ersten Geburtstag ihrer Erstgeborenen hätte sein müssen. Wenn der Eintrag in Victorias Tagebuch stimmte, würde Fanny in exakt acht Monaten nicht mehr allein im Mittelpunkt des Interesses stehen. Ihre Mutter schaute zu ihrem Mann; sie wünschte ihm für nur einen Tag die Mühe, die sie zwölf Monate lang gebraucht hatte, um wieder zu ihrer alten Figur zu kommen. Ob er töricht oder rücksichtslos oder beides war, überlegte sie und kam zu einem Ergebnis, das sie erschreckte. Als aber Fritz ihren Blick bemerkte und ihr zuzwinkerte, zwinkerte sie zurück. Victoria Feuereisen war eben noch immer die begabte Schauspielerin, die sie hatte werden wollen.
»Ich will einmal zwölf Kinder und einen Mann wie Willy Fritsch«, erzählte Claudette gerade einer Dame, die in einem einzigen Satz sowohl den Hund als auch die Lackschuhe und das schöne dichte Haar der Vierzehnjährigen bewundert hatte. Auf dem Teewagen im Esszimmer stand das Grammophon; es spielte die Schlager der Comedian Harmonists. Mit ihnen hatte sich Doktor Fritz Feuereisen zum ersten Geburtstag seiner Tochter selbst beschenkt. Sowohl seine Mutter als auch seine Schwiegermutter hatten mit den Augenbrauen Kritik geübt. »Ich habe immer versucht, meine Kinder an gute klassische Musik heranzuführen«, rüttelte Frau Betsy am Stimmungsbarometer. »Hat’s geholfen?«, fragte der Schwiegersohn. Er lachte wie ein Schüler, dem es schon beim ersten Mal gelungen ist, Niespulver ins Klassenzimmer zu schmuggeln, und summte die Melodie von »Veronika, der Lenz ist da«.
»Die ganze Welt ist wie verhext«, pflichtete Erwin aus dem Salon bei, »Veronika, der Spargel wächst.«
Auch die übrigen Gäste waren nach dem Genuss von Kanapees mit gebeiztem Lachs und dem ersten Geburtstagstoast – Rieslingsekt vom Rhein – gehobener Stimmung. Gustel – im schwarzen Kleid mit weißem Servierhäubchen und missmutig wie immer – brachte ein silbernes Tablett mit dicken runden Weißbrotscheiben und Rehmedaillons. Auf jedem war eine glasierte Orangenscheibe. Johann Isidor kaute mit Genuss. Das Obst steckte er in seine Backentasche. Das hatte er als Kind immer mit den
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