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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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leichten Herzens über Bord zu werfen bereit waren: zur Vernunft.«
    »Nichts abgeschlagen«, sagte Erwin am Ende des Monats. »Nichts Vernunft.«
    Am 30. Januar berief Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. In Berlin feierten seine grölenden Jünger, jubelnde Hysteriker, Angehörige von SA und SS, ehemalige Frontsoldaten und Volksmassen mit großen Worten und langen Fackelzügen den finalen Durchbruch des Verführers. Fünf Stunden lang. Mit Ausnahme des Bayerischen Rundfunks strahlten alle Sender einen zwanzigminütigen Bericht über die Nacht von Berlin aus.
    »Die Bayern haben schon immer ihr eigenes Süppchen gekocht«, bemerkte Johann Isidor. Keiner wusste, wie er das meinte.
    Es wusste auch niemand, ob Josepha es ernst meinte, als sie beim Auftragen der Suppe fragte: »Ist dieser Hitler nun unser neuer Kaiser oder nicht?«
    »Leider nicht, Josepha, obwohl auch er versprochen hat, uns herrlichen Zeiten entgegenzuführen.«
    Zwei Tage später löste die neue Regierung unter Hitler den Reichstag auf.
    »Gott sei Dank ist Frankfurt nicht Berlin«, sagte Doktor Meyerbeer. Der ehemalige Hausarzt und Hausfreund war außer der Reihe zum Kaffee geladen worden, um die neue Lage zu besprechen. »Frankfurt war immer das intellektuelle Zentrum Deutschlands«, dozierte er und stach mit dem Kaffeelöffel Luftlöcher. »Da hat man schon im Mittelalter Rattenfänger in den Main getrieben, ehe sie Papp sagen konnten. Und was uns betrifft, Frankfurt weiß, was es seinen Juden verdankt.«
    Seine Gattin, die ihm selten recht gab, weil sie ihn für senil und noch geschwätziger als in seiner Jugend hielt, pflichtete ihm bei. »In Frankfurt hat man immer gewusst, was sich gehört. Das hat schon mein Großvater gesagt.«
    »Und meiner hat gesagt, Gelegenheit macht Diebe«, erinnerte sich die Gastgeberin. Ob die Gäste noch ein Stück Schokoladentorte wollten, fragte sie dann. Die Gäste hielten ihr den Teller hin und ließen sich die Schlagsahne munden.
    »Josepha muss mir endlich verraten, wie sie die macht«, sagte Frau Meyerbeer.
    »Tut sie gern«, übertrieb Frau Betsy. Sie war, hatte sie Josepha erst am Morgen beim Backen der Schokoladentorte geschworen, nicht gewillt, sich von einer Handvoll verrückter Nazis ihren Hausfrauenstolz stehlen zu lassen.
    Johann Isidor rührte in seinem Kaffee, einmal rechtsherum, einmal linksherum. Er beteiligte sich kaum an der Unterhaltung, obgleich er es gewesen war, dem es nach einem Gespräch von Mann zu Mann verlangt hatte. Erst bei der Verabschiedung seiner Gäste fand er seine Stimme wieder: »Mir gefallen die Töne der neuen Herren kein bisschen«, sagte er. »Die können das Wort Demokratie noch nicht einmal buchstabieren.«
    »Ums Buchstabieren geht es diesen Halunken auch nicht«, sagte Erwin am nächsten Tag. Er hatte den gleichen Satz zu hören bekommen.
    »Es ist schon komisch, dass ich dreiundsiebzig werden musste, um dahinterzukommen, dass ich besser mit meinem Sohn reden kann als mit den meisten Leuten. Es tut mir leid, Erwin.«
    »Das muss es nicht. Es gibt Väter, die merken erst im Grab, dass es sich gelohnt hätte, mit ihren Söhnen zu sprechen.«
    Vater und Sohn waren, ohne dass Betsy es wissen durfte, weil sie Einmischungen in ihr Hausfrauenressort als Kränkung empfand, auf den Speicher gegangen. Die beiden wollten sehen, ob die alte Fahnenstange aus dem Krieg noch da war. »Rein prophylaktisch«, hatte Johann Isidor versichert, »man kann ja nie wissen, was auf einen zukommt.«
    »Das kann man nicht«, gab ihm Erwin recht. Er grinste wie in seinen frechsten Bubentagen, als ihm Provokation und Widerrede belebende Kinderlust gewesen waren. Auf die schlechte Beleuchtung im Speicher war noch immer Verlass. Die billige Lampe mit nur einer Glühbirne, die von der mittleren der Wäscheleinen baumelte, hatte auf Wunsch der sparsamen Hausherrin dreiunddreißig Jahre lang die Stromrechnung fürs Haus niedrig gehalten und ihren Sohn vor Entdeckungen geschützt – bei der ersten Zigarette, beim ersten Kuss und in den Jahren der Verzweiflung, in denen er nicht wusste, ob er leben wollte oder nicht.
    Weil er nicht nur die »Frankfurter Zeitung« las, sondern immer öfters das SPD-Zentralorgan »Vorwärts« und weil er sich regelmäßig mit einem Kaffeehauskellner unterhielt, der sein Weltbild von seinem kommunistischen Stiefvater bezog, konnte Erwins Pessimismus es jederzeit mit dem des Vaters aufnehmen. Im Übrigen fand sich hinter einem Schrankkoffer

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