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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Kostbarkeiten aus der mütterlichen Küche getan, und er fand es erstaunlich, dass er noch immer die Kunst beherrschte, so zu sprechen, als wäre sein Mund leer. Er fragte seine Frau, weshalb sie beide nicht auch den ersten Geburtstag der eigenen Kinder so groß gefeiert hätten wie Fannys. »Wenigstens Ottos«, meinte er und biss sich auf die Lippen.
    »Wir waren«, traute sich Betsy zu sagen, »zu beschäftigt, uns zu assimilieren. Wir hätten uns nicht, wie unser Schwiegersohn, mit der jüdischen Sippschaft als Publikum begnügt.«
    Doktor Nathan Rosenbusch, der pensionierte Oberstudienrat, ließ sein Sektglas zum dritten Mal füllen. Er starrte auf Gustels üppigen Busen und mochte nicht glauben, was ihn bewegte. Welcher von den vielen Herren Claudettes Vater sei, fragte der grauhaarige Filou Clara. Sie streckte beide Hände aus, um dem neugierigen Inquisitor klarzumachen, dass sie keinen Ehering trug, doch er missverstand sie und sagte verständnisvoll: »Ich bin auch Witwer.«
    Einen Moment schauten beide, der alte Mann und die junge Frau, zum Fenster hinaus, wo die Bäume auf typisch Frankfurter Art den Sommer vorwegnahmen und die Tauben in den Zweigen von der Liebe gurrten. Nathan Rosenbusch kehrte als Erster von seinen Wanderungen in die Vergangenheit zurück. So energisch, als stünde er wieder am Katheder und lehrte seine Untertertia Mores, sagte er: »Nein.« Er stand auf, federnd wie ein junger Mann, lächelte sich jung und ging auf Victoria zu, die in einem mit schwarzgelber Seide überzogenen Ohrensessel saß und Fanny an einem Stück Marmorkuchen nuckeln ließ. Doktor Rosenbusch, von dem sich seine Freunde erzählten, sein Herz sei zersprungen, als er an einem eisigen Januartag seine Frau hatte begraben müssen, verbeugte sich tief. Es war, als bitte er um den nächsten Tanz. Mit einem Lächeln, dem selbst Venus nicht hätte widerstehen können, nahm er der Mutter Fanny mit der Schokoladenschnute aus dem Arm. Langsam drehte er sich im Kreis, ging dann mit dem Kind zum Grammophon im Esszimmer und begann zu singen. Fanny blies ihm schon nach den ersten Takten die Kuchenkrümel in den Nacken. Als das Lied zu Ende war, stellte ihr Vater das Grammophon ab.
    An Tagen, an denen sein Gemüt seinem Alter entsprach, hatte Nathan Rosenbusch eine dünne, pfeifende Altmännerstimme. Vergaß er die Wunden, die das Leben ihm geschlagen hatte, war seine Stimme kraftvoll und voll. Er sang sämtliche Strophen von der Veronika im Lenz, dann den Schlager »Ein Freund, ein guter Freund«, den der Film »Die drei von der Tankstelle« mit Heinz Rühmann zum Ohrwurm gemacht hatte, und begann, weil es seine animierten Zuschauer so wollten, noch einmal mit der »Veronika«.
    Als der Meistersänger die Strophe »Der Gemahl sucht voll Schneid Anschluss an die Stubenmaid« sang, wurde er doch ein wenig müde – wahrscheinlich weil er sich zu deutlich an ein gewisses Minchen in der elterlichen Dienstmädchenkammer erinnert hatte. Mit Fanny, die kein bisschen müde war und die beidhändig ihrem Volk zuwinkte, steuerte der alte Mann den Ohrensessel an. Victoria machte ihm Platz. Sie zwinkerte noch so gekonnt, wie sie es in der Zeit der Hoffnung bei ihrem Schauspiellehrer gelernt hatte, und sagte: »Sie müssen an der Oper gewesen sein, mein Herr.«
    Doktor Nathan Rosenbusch, in Ehren pensionierter Studienrat, Lehrer für Griechisch und Geschichte, bei seinen Schülern berühmt für seinen Witz und berüchtigt für seine schlagkräftige Rechte, war so erschöpft, dass er die Augen kaum noch aufhalten konnte, aber es gelang ihm, den Schlaf noch einmal zurückzudrängen. »Bin nur gekommen, um Glück zu wünschen«, sagte er, und er sprach so langsam und deutlich, als würde er die »Odyssee« zitieren. »Einen ganz besonderen Wunsch will ich aussprechen. Möge dieses entzückende Kind hier nie den Namen Adolf Hitler oder Joseph Goebbels zu hören bekommen.«
    Niemand sagte ein Wort. Alle, außer einer, schauten erschrocken zu Boden. Claudette die Muntere fixierte die verstummte Runde. Sie baumelte mit den Beinen und beugte sich zu ihrer Mutter. Mit der Unerschrockenheit, die ihr die Dummen und die Klugen, Tapfere und Feiglinge neideten, sagte sie kichernd: »Ich glaube, der gute Mann hält sich für die zwölfte Fee an Dornröschens Wiege.«

6
DIE NEUE ZEIT, DER NEUE MENSCH
UND DIE NEUE SPRACHE
    Januar bis April 1933
    »Silvester fällt aus«, schniefte Johann Isidor in sein Taschentuch. Zu diesem Zeitpunkt waren dem Jahr 1932

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