02 Die Kinder der Rothschildallee
deutschen Staat und das Leben einer jüdischen Familie im Lot. In der Günthersburgallee, im Schlafzimmer mit den Portieren aus königsblauem Samt und den weißen Schleiflackmöbeln, wurde am letzten Februartag Salomon Raphael Feuereisen geboren, zwei Wochen früher als erwartet und genau vierundzwanzig Stunden nachdem in Berlin das Reichstagsgebäude in Flammen aufgegangen war.
Sein Leben verdankte der eilige Knabe mit dem schwarzen Haarflaum und den auffallend großen Augen einer sommermilden Maiennacht. Seine Mutter, die im März 1932 grundlos befürchtet hatte, sie wäre schwanger, war in der Nacht seiner Zeugung nicht nur besonders schön und besonders leichten Sinnes gewesen. Sie hatte am Nachmittag im Café Bräutigam bei einem Kaffee mit Whisky und einer Schlagsahnenhaube von ihrer Busenfreundin Beate einen todsicheren Tipp zur Verhütung bekommen. Die beiden Frauen, seit der Sexta einander innig zugetan, hatten sich seit der Feststellung von Vickys Schwangerschaft kein einziges Mal mehr getroffen.
Die Geburt war schwierig gewesen und hatte die Mutter so sehr angestrengt, dass sie den Stammhalter nicht mit dem Jubel und der Herzensfreude empfing, auf die in jüdischen Familien die Knaben seit der Geburt von Isaac ein Gewohnheitsrecht haben. Salomons Vater spielte die ihm von der Tradition zugedachte Rolle mit großer Überzeugungskraft – und einem Schuss Galgenhumor, den bisher keiner bei ihm wahrgenommen hatte. Fritz wies seinen Sohn darauf hin, dass er am Faschingsdienstag geboren sei; er versprach ihm eine lebenslängliche Versorgung mit Pappnase, Narrenkappe und deutschen Herrenwitzen.
Als Doktor Friedrich Feuereisen allerdings das erste Mal mit seinem Sohn allein war – im kleinen Turmzimmer, einen Tag nach der Geburt – redete er mit ihm von Mann zu Mann. »Ein schöner Schlemihl bist du«, hielt er dem Unschuldswurm im hellblauen Häkeljäckchen vor, »ausgerechnet jetzt zur Welt zu kommen und ausgerechnet in Deutschland. Wetten, du hast keinen blassen Schimmer, wie viele Menschen gestern in Berlin verhaftet worden sind. Als hätte jeder einzelne von ihnen das verfluchte Reichstagsgebäude angezündet.«
Ehe er drei Tage alt war, wurde der Knabe Salo genannt. Den Namen Salomon verdankte er Großvater Feuereisen aus Bockenheim. Der hatte ja nicht nur Frau und Sohn durch sein Geschick im Fahrradhandel ein Haus und Beträchtliches an Bargeld hinterlassen. Er war ein gottesfürchtiger Mann gewesen. Obwohl es selbstverständlich war, dass sein Enkel seinen Namen tragen würde, war die Großmutter des kleinen Salomon gerührt, ihre Schwiegertochter allerdings äußerst unzufrieden. Victoria hielt ihrem Mann vor, ein alttestamentarischer Name wäre eine Belastung in einer Zeit, von der ein jeder sagte, man wüsste nicht, was sie noch bringen würde. Er schwieg verdrossen; es war ihr Bruder, der in der Wöchnerinnenstube darauf hinwies, dass ein gewisser Goebbels, »von dem man durchaus weiß, was er bringen wird«, Joseph hieß.
»Wie der, der in Ägypten die große Karriere als Traumdeuter gemacht hat«, fügte er noch hinzu.
Gelegentlich träumte auch Victoria, und das nicht nur, wenn sie schlief. Seit ihrer zweiten Schwangerschaft träumte sie öfter, als ihr lieb war, vom Theater und seinen Helden, und manchmal träumte sie sogar von den Rollen, die sie hatte spielen wollen. Im Glücksgefühl, dass sie die Geburt gut überstanden hatte, schlug sie vor, ihren Sohn Leander oder Götz, vielleicht sogar Egmont zu nennen. Sie hatte sich jedoch bei ihrem Mann nicht durchsetzen können. Als es zur entscheidenden Diskussion kam, war Fritz von der langen Zeit des Wartens auf die Geburt zermürbt und von den Nachrichten aus Berlin beunruhigt. Er achtete zu wenig auf seine Wortwahl. Seiner geliebten Vicky, der er versprochen hatte, die Sterne vom Himmel zu holen und sie nie ungeküsst ins Bett zu lassen, warf er ausgerechnet im Kindbett vor, sie hätte zu viele Flausen im Kopf und zu wenig Empfinden für jüdische Tradition.
Bei Salomon Feuereisens Geburt waren außer einer wortkargen Hebamme und – in der Endphase der Wehen – einem sehr redefreudigen Arzt, beide Großmütter, Clara und Josepha anwesend gewesen. Claudette und Snipper waren nach Hause geschickt worden. Johann Isidor wies schon Tage vor dem Ereignis darauf hin, dass er bei keinem seiner Kinder die Wöchnerinnenstube betreten hatte, ehe das Neugeborene gesäubert, gewickelt und zumutbar für empfindliche Männeraugen gewesen war. Er blieb
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