02 Die Kinder der Rothschildallee
also während der Wartezeit in der Rothschildallee und studierte in sämtlichen Zeitungen, die ihm Betsy hingelegt hatte, die Katastrophen vom Tage.
Johann Isidor war nicht unruhiger als bei seinen eigenen Kindern. Im Laufe des Tages wurde er allerdings recht wehmütig. Ihm wurde bewusst, wie schnell die Jahre vergangen waren und dass sich kaum eine seiner Hoffnungen erfüllt hatte. »Von den Illusionen wollen wir gar nicht erst reden«, beklagte er sich bei dem würdigen alten Herrn, der ihn im Salon aus einem dunklen Rahmen beobachtete. Onkel Heinrich mit den weißen Haaren, der Perle im Halstuch und der goldenen Uhr in der Westentasche schwieg. Wie er es auch bei Lebzeiten getan hatte. Schweigend Nein sagen zu können, das war Heinrichs Kapital gewesen. Mit dem hatte der geschickte Oheim in jeder Lage gewuchert– und gewonnen. Sein Nachfahre, der nun im Ohrensessel saß und seinen Kopf mit beiden Händen abstützte und immer wieder leise vor sich hin röchelte, während seine Tochter eine Straße weiter in den Wehen lag und sehr laut stöhnte, pflegte sonst nie mit den Vorausgegangenen Kontakt aufzunehmen. Johann Isidor Sternberg war jedoch schon seit Stunden am Grübeln. Das Schicksal, so hatte er begriffen, war vielleicht dabei, ihn mit einem äußerst diffizilen Problem zu belasten. Zugegeben: Er war auch in guten Zeiten pessimistisch gewesen, aber gerade deswegen war er mit Konflikten und Bedrohlichkeiten fertig geworden, ehe die anderen sie überhaupt witterten.
Es nahm ihm die Ruhe, dass dieser taktierende Charakterzug ihm in einem Alter zu handeln befahl, in dem seine Kräfte so merklich nachließen. Hatte er denn immer noch für alle die Verantwortung zu tragen? Johann Isidor nickte, als hätte ihm jemand tatsächlich die Frage gestellt. Er spürte, wie sehr es an ihm, dem Patriarchen, liegen würde, die Seinen zurückzuhalten, sie zum Maßhalten zu ermahnen. »Das ist wahrhaftig nicht leicht für einen Mann, der endlich die Fackel übergeben will«, klagte er. Seine Stimme erschreckte ihn. Er hatte ein kindisches Bedürfnis, aufzustehen und das Porträt von Onkel Heinrich umzudrehen. Mit dem Gesicht zur Wand.
»Der guckt ganz böse«, hatte der kleine Otto gesagt. Drei Jahre alt war der Junge damals gewesen und zum ersten Mal im Matrosenanzug. Die Sternbergs hatten noch im Sandweg gewohnt. Zur Miete und mit der Badewanne hinter dem Vorhang vom Schlafzimmer. Von einem eigenen Haus hatte Ottos Vater nur geträumt, wenn er in euphorischer Stimmung war.
»Pfui, Otto, so etwas sagt man nicht.«
»Warum?«
Warum, warum, warum? Warum sollte ausgerechnet er, Johann Isidor Sternberg, der nur Schwiegervater war und dazu ein sehr zurückhaltender, im Falle, dass Victoria einen Jungen zur Welt brachte, ihren Mann auf die neue Zeit einstimmen? Sie forderte von den deutschen Bürgern jüdischen Glaubens ein Umdenken. Kompromisse hatten sie zu machen, geduldig zu warten, dass der Spuk ein Ende nahm. Es war klug – nicht feige! –, sich klein zu machen, den Kopf einzuziehen. Wahrhaftig war es derzeit angebracht, die Feier der Beschneidung nicht in dem großen Rahmen abzuhalten, der in den meisten jüdischen Familien Tradition war, in den liberalen und in den orthodoxen. Ein Haus voller Gäste, Alkohol, ein Festessen, Musik und Heiterkeit, das bejubelte Glück der Knabengeburt – dies alles entstammte der Welt von gestern, stand für einen gesellschaftlichen Status und eine Sicherheit, die nicht mehr gegeben waren. »Im Moment«, wollte es der Meistertaktiker Sternberg formulieren, »sollten wir uns bedeckt halten. Das ist für uns ja nichts Besonderes. So etwas hat es schließlich schon immer gegeben. Das üben wir seit Jahrtausenden.« War es eine Illusion, »im Moment« zu sagen, ein Euphemismus oder nur die Dummheit der mit Blindheit Geschlagenen?
Wahrscheinlich würde Fritz erwidern: »Den Kopf einziehen und uns ducken, meinst du das im Ernst, mein Guter?« Jugend war ja hitzig und so rasch mit dem Wort. Sie hielt sich für stark und war zu stolz, um sich mit dem Leben zu arrangieren. Die Jungen belächelten die Alten, statt dass sie bereit waren, aus den Erfahrungen ihrer Väter und Großväter zu lernen. War er, Johann Isidor, der Mann, für den Maßhalten und umsichtiges Taktieren das Brot und die Waffe der Klugen waren, in seiner Jugend auch so gewesen? So hartnäckig und unbelehrbar und allzeit bereit, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen? Auf alle Fälle war er leichtgläubig gewesen. So unschuldig
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