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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Nessusgewand des Herakles. Das Pamphlet mit der schwarzen Teufelsschrift, das ihn versengte, solange es seine Augen sahen und seine Hände es berührten, hatte er schwer atmend in seine Aktentasche gestopft. Wie ein Mann, der sich einer Unterschlagung schuldig gemacht hat und der unmittelbar vor seiner Verurteilung steht, war er sich vorgekommen. Wie ein Einbrecher, den jeder Laut in die Panik treibt, hatte er sich umgeschaut; wie ein Gejagter, der auf die Flucht muss und der weiß, dass er nie mehr heimkehren wird, war er sich vorgekommen.
    Seine Welt hatte aufgehört zu sein. Aber ihm war nichts eingefallen, als zu flüstern: »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.« Jedes einzelne Wort hatte auf ihn eingedroschen. Mit Eisenstangen, mit Ochsenziemern. Wer hatte das noch mal gesagt, geschrieben, gedacht? Wann und warum und zu wem? Endlich war ihm doch noch Franz Werfel eingefallen und dass die Mutter ihm das Buch mit dem provozierenden Titel zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Am Tage seiner Volljährigkeit. Der Roman war gerade herausgekommen und wurde viel diskutiert. Fritz hatte sich auch an den Geburtstagstisch mit dem Napfkuchen erinnert und an die zwei neuen Oberhemden, beide weiß mit dünnen grauen Streifen und beide eine Nummer zu groß. Frau Feuereisen kaufte ihrem Sohn immer zu große Hemden, aber er mochte es ihr nicht sagen. Das Buch von Werfel hatte sie in dunkelbraunes Seidenpapier eingepackt.
    »Das Papier«, sagte die Mutter, »kannst du weiter benutzen und das Buch damit einschlagen. Es wäre schade um den schönen Schutzumschlag, wenn du ihn nicht schützt. Das habe ich mir extra so ausgedacht.«
    »Du denkst immer an alles, Mutter.«
    »Das habe ich in der Ehe mit deinem Vater gelernt. Entweder wir beherrschen das Leben, oder das Leben beherrscht uns.«
    Vom Gericht – am Hessendenkmal vorbei und die Friedberger Landstraße bis zu dem rasenbewachsenen freien Platz – war Doktor Friedrich Feuereisen, den seine Scham blind, taub und stumm machte, langsam nach Hause gelaufen. Nein, geschlichen war er wie ein Greis, der das Ziel noch mehr fürchtet als den mühseligen Weg dorthin. Auf einer Bank am Spielplatz in der Günthersburgallee, unmittelbar vor dem Haus, in dem seine zweijährige Tochter und seine hochschwangere Frau auf ihn warteten, hatte Friedrich Feuereisen die Schmähschrift zu verbrennen versucht. Er wollte die Erniedrigung auslöschen, als wäre sie nie gewesen, das Gemeine ungeschehen machen. Flammen sollten ihn erlösen und wieder zu einem Mann wie andere machen. Vor allem wollte er die Demütigung, die ihn brandmarkte, vor jenen verbergen, die ihn für stark und klug und für ihren Beschützer hielten. Er, der Nichtraucher, hatte sich eigens an einem Wasserhäuschen Streichhölzer kaufen müssen. Die ganze Packung war aufgebraucht, ehe das verbrannt war, was sein Urvertrauen in das Land seiner Geburt für immer vernichtet hatte. »Fröhliche Weihnachten«, hatte ihm der Mann von der Bude nachgerufen, »lassen Sie sich etwas Schönes schenken.«
    »Hab schon mein erstes Geschenk«, hatte er zurückgerufen, und beide Männer hatten gelacht.
    Die Wahlen zum Reichstag fanden einen Tag vor der Beschneidung des kleinen Salo statt. »Noch nicht einmal die Hälfte der Frankfurter hat die Nazis gewählt«, zog Johann Isidor am nächsten Morgen Bilanz. Er rieb seine Hände aneinander, wie er es als junger Mann nach einem guten Geschäft getan hatte.
    »Wenn das nicht der berühmte Silberstreifen am sonst düsteren Horizont ist!«
    »Du kannst auch sagen, jeder zweite Frankfurter hat die Nazis gewählt«, stellte Erwin klar. »Warte nur die Kommunalwahl nächste Woche ab. Da holen unsere Frankfurter auf. Da bleibt der Horizont düster, und die ganze Stadt ersäuft in einem Meer von Hakenkreuzfahnen.«
    »Das würde unser OB nie zulassen. Für Ludwig Landmann bin ich bereit, Haus und Hof zu verwetten. Und meinen guten Ruf obendrein. Der weiß, dass er sich als Jude nicht von den Nazis vereinnahmen lassen kann. Mir soll die Hand abfallen, wenn Landmann je die seine zum deutschen Gruß erhebt.«
    »Hört endlich auf mit eurem Geschwätz«, schimpfte Betsy. »Schämt ihr euch denn gar nicht? Es ist die erste Bris in unserer Familie seit dreiunddreißig Jahren. Der Mohel steht schon vor der Tür, und ihr beide quasselt nur von Politik. Was schert uns ein dahergelaufener Prolet aus Österreich, über den die ganze Welt lacht? Jeder halbwegs vernünftige Mensch in diesem

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