02 Die Kinder der Rothschildallee
wie sein achtzehnjähriger Sohn, den man glauben gemacht hatte, nur der Tod auf dem Schlachtfeld ehre den deutschen Mann.
Der Vater hatte den Sohn noch übertroffen. Er, nicht Otto das Kind, hatte Tränen in den Augen gehabt, als des Kaisers berühmte Balkonrede publik wurde. »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr. Wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder«, murmelte Johann Isidor. In der Grube seiner Erinnerungen brodelte Unruhe. Seine Augen brannten. Es machte ihn beklommen, dass er jedes Wort der großen Verführung noch parat hatte. In seinem Herzen verwahrt für immer. War er wirklich der Patriot gewesen, der es für die Pflicht eines jeden deutschen Mannes hielt, für das Vaterland zu sterben?
»Großvater, komm, wir müssen ganz schnell rüber!« Claudette stand in der Diele. Ihre Stimme war hoch, ihre Augen wieder die vom kleinen »Claudetteche«, das im Sommer die Sterne vom Himmel holte und im Vorgarten unter den Rosen vergrub. »Es ist ein Junge. Mami ist gerade aus der Günthersburgallee gekommen. Sie hat gesagt, ich soll dich schnell holen.«
»Wir wollen Gott danken. Ich hoffe nur, er hat sich mit dem Zeitpunkt der Lieferung nicht vertan.«
»Du machst immer so schöne Witze, wenn du dich freust, Opabär. Ich will mal so werden wie du.«
»Dann wirst du enterbt, mein Kind.«
»Natürlich werde ich die Bris nicht groß feiern«, sagte Fritz zu seinem Schwiegervater am Abend der Geburt, »das habe ich mir schon vorgenommen, als Vicky noch schwanger war.«
»Und woher wusstest du, dass es ein Junge wird?«
»Schon meine Mutter hat immer gesagt, ich weiß mehr, als ich mir anmerken lasse.«
Das entsprach, und das wusste wiederum nur er, absolut der Wirklichkeit. Im Leben von Friedrich Feuereisen hatte nämlich zwei Monate vor der Geburt seines Sohns ein neues Kapitel begonnen – mit Höllenbuchstaben geschrieben und mit glühendem Eisen in sein Herz gebrannt. Fritz war entschlossen, keinem je davon zu erzählen. Nichts würde seine übersensible Frau erfahren, die sich von ihren eigenen Tränen ins Jammertal zerren ließ, und nichts seine resolute Mutter, die noch dann Mut machte, wenn sie selbst keinen mehr hatte. Selbst mit seinem Schwiegervater würde er nicht reden, obwohl Johann Isidor die Stärke besaß, geduldig den Richtspruch des Schicksals abzuwarten. Nicht einmal seinem Schwager würde sich Fritz anvertrauen können, denn trotz seiner Klarsichtigkeit hatte Erwin das Fürchten noch nicht gelernt. Mit keinem der alten Freunde und Kommilitonen konnte er reden. Auch nicht mit seinem ehemaligen Seniorpartner, der nun im Tessin lebte, denn der war nicht imstande zu glauben, was er von Deutschland erfuhr.
Zwei Tage vor Heiligabend hatte der junge, aufstrebende, vielversprechende Rechtsanwalt und Notar Doktor Friedrich Feuereisen in seinem Gerichtsfach ein dünnes, mehrfach gefaltetes Stück Pappe gefunden. Er hatte es aus dem Fach genommen und sofort das Unheil gespürt, die Bedrohung empfunden. In schwarzer Tusche, mit breitem Pinsel aufgetragen, hatte der anonyme Absender die Beschimpfung »Talmud-Gauner« geschmiert. Darunter, das ganze Blatt füllend, war ein sechseckiger Davidstern. In dessen Mitte stand in Blockbuchstaben »Jude!«. Das Ausrufezeichen war rot gewesen. Blutrot, ein Fanal, des Teufels Lunte.
»Mutter, der Klaus aus der Quarta hat mich einen Saujud genannt. Was soll ich machen?«
»Nichts, mein Sohn, du musst lernen, so etwas zu überhören. Dein Vater und dein Großvater mussten es auch lernen. Und eines Tages wird es auch dein Sohn lernen müssen.«
»Ich will das aber nicht.«
»Wir werden nicht gefragt.«
War Doktor Feuereisen, von einer verlorenen Strafsache gekommen, noch in seiner Anwaltsrobe und mit seinen Gedanken bei seinem Mandanten, den er künftig im Gefängnis würde besuchen müssen, schreckensstarr geworden? Hatte er gezittert wie ein verirrtes Kind, das den Weg nach Hause nicht mehr findet? Hatte er atmen können, ohne zu ersticken? Hatte er gewürgt, geschwankt und mitbekommen, dass der Himmel auf ihn herabstürzte und sich der Boden unter ihm auftat? Der Gedemütigte wusste es nicht mehr. Noch acht Wochen, nachdem seine Welt innerhalb von Sekunden geborsten war, vermochte sich Friedrich Feuereisen nicht zu erinnern, wie lange in diesem unendlichen Moment des Begreifens sein Herz zu schlagen aufgehört hatte. Er wusste nur noch, dass er sich die Robe vom Leib gezerrt hatte, als wäre sie das vergiftete
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