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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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man sah ihnen die Behändigkeit an, die ein Mohel braucht, um es in seinem Beruf zu einem guten Ruf zu bringen. Schweigend packte er seine abgewetzte braune Ledertasche aus. Er legte zwei Messer auf dem Tisch und schaute sich um. Das tat er seit über vierzig Jahren. War das eine Messer nicht scharf genug, erklärte er, würde er dem Baby keine unnötigen Schmerzen zufügen müssen. Er hatte ja Ersatz.
    Doktor Meyerbeer war die Ehre zugekommen, das Kind während der Zeremonie zu halten. Der treue Wegbegleiter saß auf einem mächtigen Lehnstuhl in der Mitte des Zimmers. Er wiegte Salo sanft in seinen Armen und lächelte, doch er war an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit. Der betagte Arzt dachte an ein kleines galizisches Dorf, dessen Namen ihm schon seit Jahren entfallen war. Seit Vater stammte von dort und hatte oft erzählt, dort wäre eine Bris auch ein Fest für die nichtjüdischen Nachbarn gewesen. »Zuckerlekach«, ein Kuchen mit Honig und nur mit Öl und nie mit Butter oder Schmalz gebacken, hatte bei den jüdischen Hochzeiten und Beschneidungsfesten in großen Körben herumgestanden. Alle Gratulanten, ob Erwachsene, die so viel Schnaps bekommen hätten, wie sie wollten, oder die Kinder, die noch dachten, alle Menschen wären gleich und gut, wären bewirtet worden. »Ach«, seufzte Doktor Meyerbeer. Salos winzige Nasenflügel bebten.
    Sein eigener Großvater und auch sein forscher Onkel Erwin waren wachsbleich. Die anderen Männer wirkten, als wären sie zu Salzsäulen erstarrt. Salos Vater kniff die Augen so fest zu, dass sie schmerzten. Er verpasste den Moment, als seinem Sohn ein Tropfen von dem gesegneten Wein auf die Lippen getröpfelt wurde, und er flehte Gott an, sich seiner zu erbarmen und ihn künftig nur noch mit Töchtern zu segnen. Wenn der Allmächtige seinen Sohn vom Schmerz verschonte, versprach der Vater, würde er jeden Sabbat in die Synagoge gehen. Nie mehr würde er die Spende für die Armen zu knapp bemessen, sollte er zur Thora aufgerufen werden.
    Im Turmzimmer schluchzte die junge Mutter, dass es einem jeden, der sie weinen hörte, das Herz zerriss. Victoria war noch von der Geburt geschwächt; sie hatte noch nie eine Beschneidung erlebt und zu viel Phantasie. Ihre Schwiegermutter, die ein gutes, zum Mitleiden fähiges Gedächtnis für die Angstqualen einer jungen Mutter bei einer Bris hatte, hatte sie rechtzeitig vom Schauplatz des Geschehens weggeführt.
    Die praktische Frau Meyerbeer schloss das Fenster. »Damit das Weinen im Hause bleibt«, sagte sie und schüttelte ihre frisch gelegten Wasserwellen. »Ich kenne kein Kind, das seine Bris nicht überlebt hat.«
    Ihr Ton, fand Victoria, gehörte sich nicht. »Sie haben gut reden«, hielt sie Frau Meyerbeer vor, »Sie haben ja nur eine Tochter geboren und das hier nie durchgemacht.«
    »Aber deine Mutter hat«, erinnerte sie Frau Betsy, »zweimal, wie du dir denken kannst. Otto war überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Mir war das zum Schluss richtig peinlich.«
    Der kleine Salo wachte selbst in dem Augenblick nicht auf, da der Mohel seinen diffizilen Auftrag erfüllte. In die Männer kehrte das Leben zurück. Salos Vater rieb die Stirn trocken, sein Großvater nickte Doktor Meyerbeer zu. Die Mutter kam zu ihrem Sohn. Erleichtert streichelte sie seine Wange; sie nahm sich vor, den Sohn nie der Tochter vorzuziehen. Mit ihrer Linken beruhigte sie die eifersüchtige Fanny, die sich in Mutters moosgrünem Seidenrock verkrochen hatte.
    Wie als niedliche kleine Vicky im Baden-Badener Sommerparadies, hatte Frau Victoria nach dem Weinen große, glänzende Augen. »Kohleaugen hat das Kind«, hatte Tante Jettchen am Mittagstisch im Hotel Zum Hirschen gesagt, »Kohleaugen bringen es weit im Leben.« Alle Anwesenden, besonders die männlichen, waren sich einig, dass Doktor Feuereisen eine außergewöhnlich schöne Frau hatte und dass der Mohel außerordentlich geschickt gewesen war. Sowohl Johann Isidor als auch sein Schwiegersohn sagten es ihm. Doktor Meyerbeer nickte Zustimmung.
    Auch der Mohel hatte schöne Augen. Lob ließ sie erstrahlen wie die Sterne am Augusthimmel. Die drei Gläser Wodka, mit denen er große Brocken von Hering und die feinen Schnittchen mit gehackter Hühnerleber hinunterspülte, lösten seine Zunge. Er segnete, obgleich er seine Pflicht ja bereits getan hatte, den Säugling. Danach schaute er Claudette im tief ausgeschnittenen Kleid mit Blicken an, die wissen ließen, dass unter seinem Kaftan ein Mann mit jungen

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