02 Die Kinder der Rothschildallee
Land spürt doch, dass sich dieser Kerl und seine ganze kommunistenfressende Bagage nicht halten werden. Bis zum Herbst packt der seine Koffer. An so einen miesen Parvenü glaubt doch nur der Abschaum. Leute wie Frau Winkelried.«
»Und unsere Mieter im Parterre. Oder hast du noch nicht bemerkt, was bei denen zum Wohnzimmerfenster heraushängt? Eine Kirchenfahne ist das nicht, obwohl sie immer noch jeden Sonntag in die Kirche marschieren.«
Am Tag der Beschneidung, um zwei Uhr in der Früh und im Schutz der Dunkelheit, vertraute sich Rechtsanwalt Doktor Feuereisen seinem acht Tage alten Sohn an. Salomon trennten zu diesem Zeitpunkt nur noch neun Stunden von seiner Aufnahme in den Bund Abrahams. Weil er jedoch nichts wusste von der Last, die er fortan würde tragen müssen, war er gelassen und zuversichtlich. Bereitwillig lieh er dem sein Ohr, dem es nach befreiender Rede drängte. Obwohl der Knabe nie seines Vaters Klage würde verstehen können, ballte er beim Aufwachen seine winzige Rechte zur Faust. In seiner Erregung hatte der Vater zu laut auf das schlafende Kind eingeredet.
Noch vor dem Frühstück erkannte Friedrich Feuereisen, dass an ihm, der nie an Wunder hatte glauben wollen, ein solches geschehen war. Das erste Gespräch mit seinem Sohn machte es ihm trotz seiner Angst und Bestürzung möglich, so weiterzuleben, als sei er ein ganz gewöhnlicher deutscher Vater. Obwohl sein Irrtum sehr bald für alle Zeiten evident werden sollte, verließ ihn nie mehr die Vorstellung, dass Gott einem Mann Söhne schenkt, damit sie die Bürde tragen, für die die Väter zu schwach sind. »Ich werde dafür sorgen, dass du nie erleben musst, was ich erlebt habe«, versprach Friedrich Feuereisen seinem Sohn. Er sagte das, obgleich gerade er als Jurist sich über das Wesen eines Versprechens im Klaren hätte sein müssen.
Friedrich Feuereisen, der eifrige Klassenprimus, der Mann mit den glänzenden Staatsexamina, der Rechtsanwalt von Fortüne war tatsächlich ein Jurist, wie sich ihn der Laie vorstellt. Für ihn galten nur das Gesetz, das Beweisbare, die Logik. Er interpretierte nicht das Sein, suchte nicht nach dem Geheimnis des Lebens. Auch die Psychologie lag ihm fern. Sigmund Freud, der Wiener Meister, erreichte ihn nicht. »Die Seele kann man ja weder sehen noch berühren«, pflegte er zu sagen. Er hatte sich nie mit der Eigenschaft beschäftigt, das Furchtbare zu verdrängen und dann weiterzuleben, als wären die Wunden verheilt, ohne Narben zu hinterlassen. Und doch gelang es dem Juristen Friedrich Feuereisen, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Ohne Bedenken reihte er sich in das große Heer der Illusionisten ein, die sich und anderen suggerierten, in Deutschland würden nur vorübergehend und für einen absehbaren Zeitraum Kübel von Häme und Hass über die Juden geschleudert werden. Deutschland, so glaubten die Juden, die nicht imstande waren, sich ihre Liebe zu Deutschland aus dem Herzen zu reißen, würde ihnen sehr bald wieder ihre Vaterlandstreue danken und sich ihrer Verdienste erinnern.
Es wurde, wie es Johann Isidor Sternberg, der kluge Großvater des Kindes, vorgeschlagen hatte, eine bescheidene Feier. Kein empfindsamer Nachbar, kein neudeutscher Rassengott sollte behaupten können, die Juden würden sich zu forsch benehmen. Missgestimmt war allein Fanny, Salos Schwester, die am Tag seiner Beschneidung ihren zweiten Geburtstag mit Geschenken und Kerzen im bemalten Holzkranz hätte feiern müssen. War sie sich dessen auch nicht bewusst, so machte ihr doch seit der Geburt ihres Bruders Geschwisterneid zu schaffen. »Du trägst doch nicht etwa schon das Kainsmal auf deiner Stirn?«, fragte sie der bibelkundige Vater vor der versammelten Gästeschar. Das putzige Fräuleinchen mit der rosa Seidenschleife im Haar hatte dem schlafenden Brüderlein seine Spitzen besetzte Mütze vom Kopf gerissen und ihn einen »bösen Hund« geschimpft.
»Hast du eine Ahnung, was es heißt, im Schatten eines Bruders aufzuwachsen?«, belehrte Clara ihren Bruder.
»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Erwin und streichelte ihre Stirn, »war es dein Schatten, in dem ich stand. ›Nimm dir mal ein Beispiel an deiner Schwester. Ihr Schreibheft ist eine Augenweide!‹«
Der Mohel, der die Beschneidung vorzunehmen hatte, war ein schmächtiger, alter Mann mit einem langen grauen Bart und von gebeugter Gestalt. Der schwarze Kaftan reichte bis zum Boden, sein Hut war auffallend hoch, seine Hände auffallend klein, doch
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