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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Sinnen steckte. Für die wohltuenden Lobesworte revanchierte er sich mit einem Berufswitz. »Kommt einer«, erzählte er mit tiefer Stimme, »an einem Laden mit einer großen Pendeluhr im Schaufenster vorbei. Er geht rein und fragt den Mann im Laden, wie lange wird es dauern, bis Sie meine Armbanduhr werden reparieren können. ›Ich bin kein Uhrmacher‹, sagt der Mann, ›ich bin Mohel.‹ ›Aber, Sie haben doch eine Uhr im Fenster.‹ ›Nu, was würden Sie an meiner Stelle ins Schaufenster hängen?‹«
    Am lautesten lachte Salos Großvater, obgleich er, wie alle anderen Männer im Raum, den Witz seit früher Jugend kannte. So endete der erste Teil der Beschneidung von Salomon Raphael Feuereisen mit dem Gelächter der Gutmütigen und der Höflichkeit der Gebildeten. Die Heiterkeit hielten die Optimisten für ein Zeichen vom Himmel, dass Gott es gut mit dem Kind, seiner Familie und seinen Gästen meinte. Johann Isidor bemaß den Lohn für den Mohel reichlicher als abgemacht. »Der Allmächtige wird es Euch danken«, prophezeite der fromme Mann.
    Zum Abschied hielt ihn die kleine Fanny an einem Hosenbein fest und sagte mit ihrer unwiderstehlichen Bettelstimme »mich auch«. Diesmal lachten die Männer nicht aus Höflichkeit. Sie wieherten laut, und ihnen kamen die Tränen. Victoria schaute ihren Mann streng an. Sie fand, die Bris ihres Sohnes war wahrhaftig nicht die Gelegenheit für den Vater, um sich an rohen Scherzen zu erfreuen.
    In der Küche rieb Josepha die Weingläser blank. »Eine schöne Taufe«, befand sie.
    »Jetzt sind Sie dreiunddreißig Jahre bei uns«, wunderte sich Frau Betsy, »haben meine fünf Kinder, Claudette und Fanny erlebt und wissen immer noch nicht, dass wir unsere Kinder nicht taufen lassen.«
    »Das ist doch egal. Hauptsache, Gott ist zufrieden, sag ich immer.«
    Josepha hatte darauf bestanden, nicht als Gast zu der Bris geladen zu werden. Sie fühlte sich auch für Victorias Haushalt verantwortlich und wollte das ungeschickte, übellaunige Dienstmädchen Gustel beim Auftragen des Mittagessens beaufsichtigen. Die Meisterköchin ging ins Esszimmer. Sie zupfte das weiße Damasttischtuch gerade – es war noch von Frau Winkelried gemangelt worden; eine sengende Wut stieg in Josepha hoch. Als sei der Schmähbrief der Putzfrau eben erst eingetroffen. Aus der Schublade vom Büfett holte sie das Fischbesteck, rieb es an ihrer frisch gestärkten Schürze blank und fluchte, was Gustel galt: »Drecksluder«. Im Turmzimmer, im Salon und in der Küche machte sie die Fenster wieder auf. Vom Parterre stieg Musik hoch. Die Mieter dort hatten ihr Grammofon auf volle Lautstärke gedreht. Schon wussten sie, dass Rechtsanwalt Feuereisen keinen Protest mehr wagen würde. Noch hatten sie nicht erfahren, dass ein Teil der Künstler von den beliebten Comedian Harmonists jüdisch und somit nicht mehr genehm war. Sie ließen wissen »Ich hab das Fräulein Helen baden sehen«. Anschließend sang Hans Albers, dessen Lebensgefährtin Hansi Burg jüdisch war, was den Nazis ebenfalls nicht passte, »Gnädige Frau, komm und spiel mit mir«. Dolly Haas versprach »Es wird schon wieder besser«, und Paul Hörbiger befand »Das muss ein Stück vom Himmel sein«.
    Alice, die seit einigen Tagen zur Beunruhigung ihrer Mutter ungewöhnlich still und oft abwesend war, stand am Fenster.
    Die grazile Achtzehnjährige mit der Wespentaille, die ihr beide Schwestern und selbst die immer zufriedene Anna neideten, hatte ein cremefarbenes Kleid mit einer breiten grünen Schärpe an. Sie trug ihre langen Haare offen und sah von hinten in ihren schwarzen Spangenschuhen und hellen Strümpfen wie die Abbildungen von »Alice im Wunderland« in anspruchsvollen Kinderbüchern aus. Was keiner sehen konnte: Alice biss sich auf die Lippen und hatte Tränen in den Augen, denn sie dachte an Fräulein Doktor Winfried Kranichstein und fühlte sich vom Leben betrogen.
    Die seit der Quarta von ihr vergötterte Deutschlehrerin, von der schon seit Jahren gemunkelt wurde, ihre Gesinnung wäre so rot wie ihre Haare, war seit zwei Wochen nicht mehr zum Unterricht erschienen. »Und sie wird sich hier auch nicht mehr blicken lassen«, hatte Herr Thorn, der Geschichtslehrer, seine Schülerinnen wissen lassen. Der Kurzbeinige in Reitstiefeln und mit dem Parteiabzeichen am Revers hatte den Deutschunterricht in der Oberprima übernommen. Als Erstes hatte er einen Aufsatz zum Thema »Das arische und das völkische Element in Heinrich von Kleists Gesamtwerk«

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