02 Die Kinder der Rothschildallee
Holland. Er kehrte nicht zurück. Man hatte ihn gewarnt, dass SA-Rollkommandos nach ihm suchten. Am nächsten Tag war das Rathaus besetzt. Der Jude Landmann wurde für abgesetzt erklärt, die kommunistischen und die sozialdemokratischen Abgeordneten wurden »beurlaubt«, der sozialdemokratische Bürgermeister Karl Schlosser verhaftet und der Nationalsozialist Friedrich Krebs als Oberbürgermeister eingesetzt. Als Beweis für die Wertschätzung seiner Person wurde er zu seinem vierzigsten Geburtstag im April in seinem Amtszimmer in einem Meer von Blumen fotografiert. Im Römer und davor wurde der deutsche Gruß geübt.
»Rechter Arm nach oben und Heil Hitler statt Guten Morgen«, erklärte Erwin, »du musst üben, Josepha. Frau Winkelried hat’s ja auch gelernt.«
»Von einem, den ich vor dreiunddreißig Jahren in den Armen gehalten hab’, lass ich mich nicht auf den Arm nehmen«, sagte Josepha und bedrohte den, dem sie ein Kinderleben lang die besten Brocken zugesteckt hatte, mit dem Tranchiermesser.
Auf dem Standesamt erhielten die Brautpaare Hitlers Buch »Mein Kampf«, die Front des Hauptbahnhofs verschwand hinter Hakenkreuzfahnen. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Ludwig Steinberg wurde abgesetzt. Ersetzt wurde er durch General a. D. Reinhard von Westrem, ein Meister der Hetze. Der klagte, dass »die alte Kaiserstadt, die Stadt Goethes, von Juden verseucht« sei, versprach, »Frankfurt wird deutsch werden«, und machte klar: »Ihr Juden braucht nicht zu zittern, wir bleiben legal, so legal, dass euch von so viel Legalität noch unbehaglich wird.« Viele, die es in Frankfurt zu Ansehen und Ruhm gebracht hatten, verschwanden aus der Stadt. Die schnell Entschlossenen und die mit Weitblick in der Emigration, die Wehrlosen in Schutzhaft. Am 31. März verschickte der Frankfurter Magistrats-Personaldezernent einen Brief ohne Anrede an den berühmten Maler Max Beckmann, Lehrer an der Kunstgewerbeschule des Frankfurter Städel. Ihm wurde zum 15. April gekündigt.
Erwin Sternberg, der nicht berühmt und auch nicht bekannt war, der aber nach Jahren der Hoffnungslosigkeit der Städelschule verdankte, dass er eine künstlerische Heimat gefunden hatte, wurde nicht per Brief gekündigt. An der Tür des Arbeitsraums, den er vier Jahre lang mit zwei Kollegen geteilt hatte, klebte ein riesiges Schild mit der Aufschrift »Juden unerwünscht!«. Auf dem Ausrufezeichen saß ein grinsender Teufel. Obwohl er unter Schock stand, erkannte Erwin in der Teufelsfratze die Handschrift eines Lehrers, dem er regelmäßig Geld geliehen hatte. Die Rückzahlung der letzten zwanzig Mark stand noch aus. Während er seine Sachen packte, ließen sich die beiden Kollegen, mit denen er räumlich so eng verbunden gewesen war, nicht sehen.
Es regnete in Strömen, als Erwin den Heimweg antrat. Trotzdem lief er langsam den Main entlang. Wie ein Kind, das sich wegen einer verhauenen Arbeit nicht nach Hause traut. Den Main überquerte der Mann ohne Ehre und Zukunft auf dem Eisernen Steg – die von Max Beckmann gemalte Fußgängerbrücke. Der Gedanke, dass Beckmann und er nun Schicksalsgenossen waren, ließ Erwin nicht los.
Im Gegensatz zu dem, was er seiner kleinen Schwester geraten hatte, erzählte er zu Hause nichts von seinem Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft. Es dauerte aber keine fünf Tage, da wusste man in der Rothschildallee 9 Bescheid. Josepha fiel auf, dass es keine Farbflecke mehr gab, die aus Erwins Hemden entfernt werden mussten. Frau Betsy merkte, dass ihr Sohn morgens später als sonst aus dem Haus ging und dass er früher heimkehrte. Sein Schwager Fritz traf ihn eines Morgens im Café Bauer. Er drückte Erwin schweigend die Hand und flüsterte: »Seit wann?« An einem der letzten Märztage – der Frühling machte die Menschen leichten Sinnes – klopfte der Vater dem lange verkannten Sohn auf den Rücken. »Lass dir bloß nicht den Schneid abkaufen«, sagte er, »es kommen auch wieder bessere Zeiten.«
Clara konnte ihrem Drang nicht nachgeben, sich dem Bruder intensiv zu widmen. Ihre Tochter war verzweifelt. Die Mutter von Claudettes Schulfreundin Elene hatte der Fünfzehnjährigen per Brief mitgeteilt, dass die Einladung für die Pfingstreise nach Paris »nicht mehr besteht«. Ferner, so schrieb Freifrau Franziska Elisabeth von Kossigk, »hat Elene zu unserer großen Freude das Bedürfnis, sich an eine Freundin der eigenen Konfession zu binden. Danach solltest Du Dich, auch in Deinem eigenen Interesse,
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