02 Die Kinder der Rothschildallee
schreiben lassen. Alice’ Arbeit hatte Herr Thorn, von dem das Gerücht im Umlauf war, er würde bald Direktor werden, nicht zensiert, das Heft lediglich mit der Bemerkung »So wirst du das Abitur kaum schaffen« versehen.
Alice steppte trotz ihrer trüben Gedanken den Rhythmus der Schlager mit. Sie hatte ihre Füße nie ruhig halten können, wenn ihre Ohren Freude fanden, und nun lehnte sie sich so weit zum Fenster hinaus, dass Erwin zu ihr ging. Er zupfte seine jüngste Schwester leicht an den Haaren, riss sie aber mit festem Griff an den Schultern zurück. Alice merkte nichts, sie streckte ihren Kopf wieder vor und stellte sich auf die Zehenspitzen, doch mit einem Mal spannte sich ihr Rücken. Ihre Hände verkrampften sich. Sie drehte sich um, sah aber ihren Bruder nicht. Der Tüllstore, der sich im Wind bauschte, verdeckte ihn.
»Komm mal schnell her, Erwin«, rief Alice. Ihre Stimme war schrill.
»Ich bin doch schon da. Oder glaubst du, das war eben dein Schutzengel, der dich davor bewahrt hat, aus dem Fenster zu stürzen?«
Vom Friedberger Platz aus, deutlich zu sehen, weil die Bäume kahl waren, zogen einige junge Burschen die Günthersburgallee entlang. Sie trugen SA-Uniform und marschierten donnerlaut singend hinter einer Hakenkreuzfahne, die ihr baumlanger Anführer schwenkte. Erst hörten die Geschwister bekannte Marschlieder. Bald grölten die braunen Marschierer ein Lied, das den meisten Menschen noch neu war, doch Erwin kannte bereits den Text. »Mach das Fenster zu«, sagte er schroff. »Sofort. Das ist nichts für eine Bris. Was soll denn Salo von seinen Landsleuten denken, wenn er so was hört?«
»Sie haben Judenblut gesungen«, flüsterte Alice, »ich hab’s genau gehört.«
»Wir werden lernen müssen, nicht mehr so genau hinzuhören, Alice. Wir können nur warten, bis der ganze Spuk vorbei ist.«
»Aber es war so gemein. Ich hab’ Angst.«
»Ich auch«, sagte ihr Bruder. Er hatte sich, zum Kummer seiner Mutter, nie dazu bringen können, seine jüngeren Geschwister anzuschwindeln. Weder aus Klugheit noch aus Barmherzigkeit.
Alice nippte, wie ihre Mutter am Abend tadelnd bemerkte, nur am Essen, »obwohl Josepha und ich uns doch so viel Mühe gegeben haben«. Das Dessert, frische Orangen in Grand Marnier, rührte sie überhaupt nicht an. Nach dem Mokka führte Erwin sie – ohne um Erlaubnis zu fragen – ins Schlafzimmer der Feuereisens. Er drückte sie kurz an sich. »Was ist los, Kleine?«, fragte er. Ganz wie früher, wenn der verwöhnte Nachkömmling eine Dummheit begangen und Angst vor Strafe hatte und eine Männerschulter und ein großes Taschentuch brauchte. So erzählte Alice mit den Kinderaugen und dem Schmollmund ausgerechnet an der Bris ihres Neffen ihrem Bruder von Fräulein Kranichstein. Der neue Deutschlehrer hatte sie als »destruktiv« und »undeutsch« bezeichnet. Und schließlich erfuhr Erwin auch von dem nicht zensierten Aufsatz und von der drohenden Prophezeiung des Herrn Thorn.
»Wissen das unsere Eltern? Wenigstens Vater.«
»Natürlich nicht. Damit kann ich ihm doch nicht kommen. Ein alter Mann von dreiundsiebzig hat doch keinen Durchblick mehr.«
»Merke dir, Alice, Johann Isidor Sternberg steckt heute noch jeden Jüngeren in die Tasche. Seine Kinder eingeschlossen. Ich wollte, jeder würde die Zeit so gut durchschauen wie er. Seit 1914 hat sich Vater keinen Anfall von Blindheit mehr geleistet. Und du solltest ihm ganz schnell erzählen, was auf ihn zukommt. Er hat keine Illusionen mehr. Er tut nur so. Ich glaube nämlich auch, dass man dafür sorgen wird, dass die jüdische Schülerin Alice Sternberg, die sich von dem undeutschen Fräulein Kranichstein zu destruktivem Denken hat verführen lassen, das Abitur nicht schafft. Willst du den Eltern zumuten, dass sie das auf dem Postweg erfahren?«
»Aber ich schäm mich so.«
»Wofür? Schämen müssen sich die anderen.«
Eine Woche später fanden in Frankfurt die Kommunalwahlen statt. Den Bürgern, die ein Leben lang stolz auf ihre Liberalität gewesen waren, war seit der Reichstagswahl im Sinne des Regimes ein Licht aufgegangen. Das entscheidende! Den Nationalsozialisten fehlte zu ihrer absoluten Mehrheit im Frankfurter Stadtparlament eine einzige Stimme. Der beliebte Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann, für den der Frankfurter Bürger Johann Isidor Sternberg bereit gewesen war, seine Hand ins Feuer zu legen, dass er sich der Nazis erwehren würde, besuchte an diesem Wochenende seine Verwandten in
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