02 Die Kinder der Rothschildallee
richten.«
Claudette saß zitternd auf der Couch, den zerknüllten Brief aus dem Hause derer von Kossigk in der Hand. Nach dem zweiten Glas Kamillentee gestand sie ihrer Mutter, dass nicht nur ihre Freundin sie »hat fallen lassen wie eine heiße Kartoffel«. Der Tanzstundenherr, der wohlerzogene Jüngling aus reichem Hause, um den sämtliche Mitschülerinnen Claudette beneideten, hatte ihr eine Woche zuvor mitgeteilt, er könne es sich nicht mehr leisten, mit einer »Jüdin gesehen zu werden«.
Während seine Enkelin drei Stockwerke über ihm Trost suchte und immer wieder »Warum?« fragte und ihr Gesicht tränennass war, las der Großvater einen Artikel von Doktor Eugen Meyer, Vorstand der Israelitischen Gemeinde Frankfurt. Der riet den Mitgliedern seiner Gemeinde: »Verzagt nicht! Wenn keine Stimme sich für uns erhebt«, schrieb er, »so mögen die Steine dieser Stadt für uns zeugen, die ihren Aufschwung zu einem guten Teil jüdischer Leistung verdankt.«
Obwohl es Johann Isidor nach Hoffnung hungerte, widmete er dem ermutigenden Artikel nicht die verdiente Aufmerksamkeit: Er hatte Wort bekommen, dass für den 1. April ein Boykott von Geschäften anstand, deren Inhaber jüdisch waren. Johann Isidors Sorge galt selbstverständlich der Posamenterie in der Hasengasse, doch ebenso seinen Läden in der Berger Straße und im Nordend. Noch viel mehr aber sorgte er sich um seine Frau. Er grübelte lange, ob die Entwicklung wenigstens zum Zeitpunkt des Geschehens vor ihr geheim zu halten wäre. In der Küche überlegten Frau Betsy und Josepha das Gleiche für ihn.
Allerdings meinte Josepha: »Das klingt alles so bescheuert. Am Ende ist das Ganze ein Aprilscherz.«
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KAROLINGERALLEE 9
April bis Juni 1933
Seit Fannys Geburt vor zwei Jahren hatten Erwin, Clara und Claudette, Victoria, Anna und Alice nicht mehr zusammen an dem wuchtigen Tisch im elterlichen Esszimmer gesessen. Aus Rücksicht auf die Bedürfnisse der kleinen Kinder hatten sich Leben und Geselligkeit immer mehr in die Günthersburgallee zu den Feuereisens verlagert. Jedoch am Mittwoch, dem 29. März, fasste Frau Betsy den Entschluss, wenigstens einen Abend lang die Uhr zurückzudrehen und die Gegenwart mit ihren Bedrohungen und Demütigungen, der Unsicherheit und der Angst auszuschließen. »Einmal wieder die sein, die ich war«, sagte sie zu ihrem Mann, worauf der seine Frau an sich zog und sehr fest drückte. Das tat er sonst nur an Silvester, Geburtstagen und Hochzeitstagen.
Am Donnerstag stand die Frau des Hauses auf, ehe der Wecker sechs Uhr anzeigte. Sie trank die üblichen zwei Tassen Kaffee und aß das gewohnte Brot mit Erdbeermarmelade, während alle außer Josepha noch schliefen. Ihrem Mann legte sie die Zeitungen auf den Schreibtisch, wobei sie darauf achtete, selbst keine der Überschriften zu lesen und nach Möglichkeit auch die Bilder zu übersehen. In den Zeitungen und Magazinen erschienen immer mehr Fotos von blonden Jungen mit erhobenem Arm und blonden Mädchen mit Zöpfen und im Dirndl. Die neue Welt der gehorsam lächelnden Jugend machte Betsy nervös. Für Anna, die seit Tagen erkältet war, schrieb sie auf ein Stück kariertes Papier: »Ich hoffe, es geht dir wieder besser. Vergiss nicht, dir zwei Zitronen auszupressen, nur ein wenig heißes Wasser zuzusetzen und mit viel Zucker zu trinken. Doktor Meyerbeer hat immer gesagt, Zitronen wirken Wunder.«
Ein wenig zögernd setzte sie den mokkabraunen Hut mit der weißen Schleierumrandung auf. Betsy hatte das Hütchen nur zweimal getragen; meistens fand sie es zu auffällig für eine Frau, die nun zum Kreis derer gehörte, die nicht mehr auffallen durften. Beherzter holte sie den hellen Kamelhaarmantel aus dem Schrank. Der war aus der Vorhitlerzeit, ein Pariser Modell, sportlich geschnitten und mit großen Perlmuttknöpfen. Sämtliche Töchter behaupteten, der Mantel wäre ein modisches Meisterwerk und wie für ihre Mutter geschaffen.
»Sie sehen aus wie ein junges Mädchen«, befand auch Josepha.
»Und Sie, meine Gute, lügen, dass sich die Balken biegen. Als ich ein junges Mädchen war, erzählte der Spiegel ganz andere Geschichten. Das können Sie mir glauben.«
Kurz nach acht saß Betsy in der Tram, die zur Hauptwache fuhr. Sie war selten so früh unterwegs. Bäume, Häuser, die ersten Frühlingsblumen in der Friedberger Anlage, selbst die Menschen auf der Straße und die Hausfrauen mit geknotetem Turban, die ihre Betten zum Lüften in die offenen Fenster legten, erweckten von
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