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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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tanzen«, hatte sie postuliert, »sie sollen von Anfang an lernen, sich mit wenig zu begnügen.« Ihr Mann hatte ihr recht gegeben, ihre frühreifen, bürgerschreckenden Zwillinge hatten im Alter von neun Jahren die Frau Mama allerdings eine »spießige Spielverderberin« genannt.
    Nun gab es keine Feste mehr mit Kindern in Galakleidern, Luftschlangen hingen nicht mehr von strahlenden Lüstern herab. Die mit Kirschen und Herzen verzierten Kerzen in bunt bemalten Holzringen waren vom Geschenktisch verschwunden und mit ihnen die Puppen mit echtem Haar und großer Garderobe, die blauen Tretroller und die teuren Dampfmaschinen. Die Kleinen spielten nicht mehr Topfschlagen und Blindekuh und schon gar nicht »Die Reise nach Jerusalem«. Bei vielen jüdischen Familien war das Zauberwort Kindergeburtstag aus dem Repertoire des Alltags mit der Formulierung »bis auf Weiteres« oder »wenigstens zunächst« gestrichen worden. Doch noch waren die Optimisten überzeugt, im Land der Dichter und Denker könne ihnen nichts wirklich Böses geschehen.
    In dem Bogen zwischen Esszimmer und Salon nuckelte Fannys Bruder Salo am Daumen. Der Knabe, noch keine zwei Monate alt, war in das mit cremefarbener Seide ausgeschlagene Körbchen gebettet, in dem vor langer und in guter Zeit auch seine Onkel und Tanten ihre erste Begegnung mit dem Judentum gründlich verschlafen hatten. Die Frau des Hauses rückte die alten Silberleuchter zurecht. Sie sprach das Gebet zum Zünden der Sabbatkerzen so fließend und andächtig, als stamme sie aus orthodoxem Haus und hätte in den achtunddreißig Jahren ihrer Ehe jeden Freitagabend den Sabbat zelebriert. Ihr Mann hatte seinen dunkelblauen Anzug mit Weste an, die Kette seiner altmodischen goldenen Taschenuhr glänzte im Licht des frisch geputzten Kronleuchters. Das schwarze Samtkäppchen, das für seinen Kopf ein wenig zu klein schien, hatte er als Dreizehnjähriger von seiner Großtante Luise zur Bar-Mizwa bekommen.
    Ein wenig stockend, weil er seit jeher Mühe mit dem hebräischen Text gehabt hatte, sprach Johann Isidor den Segen für die Challa, den mit Mohn dekorierten, aus weichem weißem Hefeteig geflochtenen Zopf. Danach füllte er einen silbernen Becher, in dem die Initialen von Betsys Mutter eingraviert waren, mit dem roten Likörwein, der schon seine Kinder entzückt hatte, und segnete ihn. Weil Johann Isidor für einen Moment den eigenen Vater sah und ihn auch mit seiner schönen tiefen Stimme den Segen für das Brot und den Wein sprechen hörte, hatte er noch mehr Mühe als sonst, sich an die beiden letzten Worte des kurzen Gebets zu erinnern. »Josi träumt mal wieder«, hörte er die Mutter rügen. Sie hatte ihre Challa immer selbst gebacken, die Bäckersfrau im Nachbardorf hatte sich von ihr das Rezept geben lassen.
    Ihr Sohn kehrte aus der Vergangenheit zurück – aus Schotten in Hessen, wo es in der Kindheit des kleinen Josi zwischen Christen und Juden gute Nachbarschaft gegeben hatte, nach Frankfurt. Dort war für den nächsten Tag den jüdischen Geschäftsleuten der Boykott ihrer Geschäfte angedroht worden. Der Frankfurter Bürger Johann Isidor Sternberg, dessen ältester Sohn für Deutschland den Heldentod gestorben war, fürchtete nun um das Wohl seiner Kinder und Enkel. Er reichte den Becher mit dem Wein an die Seinigen. Erst tranken die Männer, dann die Frauen und schließlich die Kinder. Claudette, bisher die Jüngste in der Runde, wurde dank Fanny zum ersten Mal nicht als Letzte an der großelterlichen Tafel bedient. Für einen gesegneten Augenblick vergaß sie, wie sich ihr Leben im letzten Vierteljahr verändert hatte. Sie war wieder das frohgemute junge Mädchen, das eine Freundin hatte, die sie nach Paris einlud, und Kavaliere, die sich darum rissen, sie zur Tanzstunde abzuholen.
    Die Fünfzehnjährige reichte den silbernen Becher an ihre zweijährige Cousine. Fanny mit den großen Augen und der schnellen Auffassungsgabe tunkte ihre Zunge in den Wein. Staunend leckte sie ihre Lippen, sagte »Oh« und zwei Mal hintereinander: »Ich«. Das Sabbatgesicht des schönen Kindes war ein einziges verzücktes, entzückendes Kinderlächeln. Die Tischgesellschaft war bezaubert. »Genauso hat ihre Mutter ausgesehen«, erinnerte sich Frau Betsy, »zum Fressen niedlich.«
    Victoria lächelte. Sie schwärmte immer noch für Schmeicheleien und erinnerte sich an einen sommerlichen Innenhof in Baden-Baden. Mit Hängegeranien, einer Buche und einem Brunnen, an die hellblaue Schleife im Haar und

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