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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Schmiedezaun des Vorgartens und schaute zu seinem Haus hinauf. Sein Blick ging vom Parterre, in dem die Mieter lebten, die ihren jüdischen Hauswirt und seine Familie nicht mehr grüßten, bis zum vierten Stock. Johann Isidors Gesicht wurde feuerrot.
    Seit dem 1. März wohnte Theo Berghammer im vierten Stock. Vis-à-vis von Clara und Claudette. Die Zweizimmerwohnung war vom Mann der resoluten Entschlüsse am Tag nach dem Reichstagsbrand requiriert worden. »Ohne viel Federlesens«, wie er am Abend beim Ebbelwein seinen applaudierenden Kameraden berichtete. Der ehemalige Fotograf, der an der Westfront seinen linken Fuß verloren hatte, hatte nämlich auch die Achtung verloren, die er als liebenswürdiger, hilfsbereiter Bub vor dem Hauswirt seines Vaters gehabt hatte. Der Möbelwagen der alten Mieter hatte noch vor der Tür gestanden, als Theo Berghammer, der seit Anbruch der neuen Zeit einen grünen Ledermantel mit Schulterklappen trug, eingezogen war – mit nur wenigen Möbeln, aber mit drei Paar schwarzen Stiefeln, die vor die Wohnungstür gestellt wurden, obgleich die Hausordnung die Benutzung des Hausflurs untersagte. In einem Brief ohne Anrede hatte er, der im Haus Rothschildallee 9 aufgewachsen und der der beste Freund des 1914 gefallenen Kriegsfreiwilligen Otto Sternberg gewesen war, dessen Vater wissen lassen: »Ich ziehe morgen ein. Die Miete wird Verhandlungssache sein. Ich werde Ihnen zu gegebener Zeit meine Vorstellungen mitteilen.«
    Wann immer Johann Isidor die Klingelschilder an seiner Haustür las, wurde ihm bewusst, dass er schutzlos war. Bei jedem Gedanken an Theo Berghammer, von dem er seit drei Jahren wusste, dass er der Vater von Claudette war, rebellierten Kopf, Magen und Herz. Wie im Zwang starrte er weiter auf Claras Fenster im vierten Stock. Er malte sich aus, Theo Berghammer würde bald auch Claras Wohnung fordern. Und Clara dazu. In einem lähmenden Moment sah er Theo nach Claudette greifen. Die Bäume in der Allee drehten sich um einen Stern aus Feuer.
    Johann Isidor hielt sich am Zaun fest. Er war überzeugt, er würde sich vor seinem Haus übergeben, doch gelang es ihm, das Würgen hinunterzuschlucken. Er biss die Zähne aufeinander, hörte sie knirschen, rieb die Augen. Der Schleier, der das Leben verzerrte, löste sich. Der Gehetzte sah die Tauben auf dem Dach und Rauch, der schneeweiß wie im Kino war, in den Himmel steigen. Im Nachbarhaus bedrohte eine Frau ihren Sohn mit Ohrfeigen. Johann Isidor dachte an die Hexen im Mittelalter; er sah sie auf Scheiterhaufen brennen. Das Verlangen, kehrtzumachen, unterzutauchen und im Vergessen Erlösung zu finden, griff mit Polypenarmen nach ihm. In seinem Arbeitszimmer wollte er sich einschließen, sich im Ohrensessel verkriechen und das scharlachrote Plaid, das noch nach Jahren nach den Schafen Schottlands roch, über den Kopf ziehen. Schlafen und nicht mehr aufwachen. »Verzeihung«, sagte der Mann ohne Hoffnung.
    Er machte sich auf den Weg, ohne sich umzudrehen. Johann Isidor Sternberg war kein mutiger Mann. Es hatte ihn nie zur Tat, zum großen Wort gedrängt. Nun stärkte ihn der Gedanke, dass er sich trotzdem den Klippen und Gefahren des Lebens gestellt hatte. Wie in den Jahren der Kraft straffte er die Schultern; er hob den Kopf, als hätte er noch eine Zukunft. Dann lief er auf das Ziel zu, das er zu erreichen fürchtete. War es Gott gewesen, den er um Verzeihung gebeten hatte? Ob es sich für einen Juden in Deutschland noch schickte, mit Gott zu reden, seine Hilfe zu erflehen?
    Seiner Tochter Anna, die geliebte Stütze in der Posamenterie, hatte der Patriarch trotz ihres gekränkten Widerspruchs nicht erlaubt, ihn an diesem Samstag der Angst ins Geschäft zu begleiten. Der Enkeltochter hatte er befohlen, das Haus auf keinen Fall zu verlassen – obwohl eine Französischarbeit bevorstand, die für Claudettes Versetzung wichtig war. Alice hatte er verboten, in die Synagoge zu gehen. »Ach ja, Alice«, murmelte er, »auch du.« Seine Augen wurden feucht.
    Seit der Brief eingetroffen war, dass »die Oberprimanerin Alice Sternberg aus Gründen, die sie selbst zu verantworten hat, nicht zum Abitur zugelassen werden kann und dass ihr Abgang von unserem Institut umgehend zu erfolgen hat«, ging Alice jeden Samstag in die Synagoge.
    »Um Gottes Beistand zu erflehen, dass er dir einen schmucken Mann schickt, der dich auf Händen trägt und auf Perlen bettet«, neckte Erwin seine kleine Schwester, wenn er sie samstags im Bolerokleid und

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