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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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abgeschoben hatte? »Was ist denn eigentlich mit Josepha?«, wollte sie wissen. »Was hat sie gemacht?«
    Es war eine Geschichte, die sich in drei Sätzen hätte erzählen lassen, doch sie war charakteristisch für die Unsicherheit, die Ängste und die seelische Not, die bereits 1933 in jüdischen Häusern herrschten. Bei den Sternbergs symbolisierte Josephas mutiges Bekenntnis zur Familie lange Zeit die Hoffnung, »die wir nicht aufgeben dürfen, solange es noch einen anständigen Menschen in diesem Land gibt«. Weder Frau Betsy noch Clara, Victoria oder Alice, noch nicht einmal der couragierte Erwin und auch nicht Anna, die immer Hilfsbereite, hatten in eine Bäckerei gehen wollen, um einen Mohnzopf zu ordern. »Für Freitag eine Challa zu bestellen«, hatte auch Johann Isidor erkannt, »ist heller Wahnsinn. Die Nazis werden das als freche jüdische Provokation hinstellen. Schließlich haben sie für Samstag den Boykott der jüdischen Geschäfte befohlen. Es gibt keinen Bäcker in dieser Stadt, der nicht weiß, dass es die Juden sind, die für Freitag Mohnzöpfe bestellen. Und wir werden keinen Bäcker finden, der sich hinstellt und uns einen bäckt. Ich kann die Leute sogar verstehen. Ich würde mir auch nicht freiwillig mit einem Mohnzopf Ärger auf den Hals laden.«
    Josepha hatte es nicht zugelassen, dass »in diesem Hause das gottlose Gesindel bestimmt, was auf den Tisch kommt«. Sie hatte ihren Sonntagsmantel aus dem Schrank geholt und war mit großen Schritten und vorgestreckter Brust zu einer Bäckerei am Merianplatz gelaufen, in der sie noch nie gewesen war. Als sei dies eine Selbstverständlichkeit am 30. März 1933, hatte die sternbergsche Köchin einen Zettel aus ihrer Manteltasche gezogen und erklärt: »Ich möchte für morgen einen Mohnzopf bestellen. Aus eineinhalb Pfund Mehl, bitte.« Josephas Stimme war nicht ganz so fest gewesen, wie sie es gern gehabt hätte. Zornige Flammen versengten ihre Stirn. Ihre Linke ballte sich zur Faust.
    Ausgerechnet in dem Moment, da Fräulein Krauses Kopf zu explodieren drohte, hatte die Frau des Bäckers, die Josepha noch nie gesehen hatte, so laut »Challa« gesagt, dass es ein jeder im Laden hören musste. Die Bäckersfrau kannte das Wort seit Jahren, denn sie hatte viele jüdische Kunden, doch war sie noch nie auf die Idee gekommen, es zu gebrauchen. Ein wenig verwirrte es sie, dass sie nun »Challa« gesagt hatte, doch sie war keineswegs unzufrieden mit sich selbst. Sie merkte, dass die Kundinnen, die darauf warteten, bedient zu werden, sie neugierig anstarrten. Einige zeigten ihre Verärgerung. Hinten im Laden keifte eine Stimme »Judenpack!«. Eine alte Frau, die immer Brötchen vom Vortag zum halben Preis holte und meistens einen Wasserweck geschenkt bekam, stampfte mit ihrem Krückstock auf. Ihren Kopf schüttelte sie so heftig, dass sich der Nackenknoten löste.
    »Morgen früh ab sieben können Sie Ihre Challa abholen«, sagte die Bäckersfrau.
    Josepha war so hastig aus dem Laden gelaufen, dass sie nachher noch nicht einmal wusste, ob sie sich bedankt hatte. »Das«, berichtete sie zu Hause, »wurmt mich noch viel mehr als diese gottverdammten Nazis.«
    Am nächsten Tag riss Johann Isidor Sternberg, dem Freunde und Rivalen in goldenen Zeiten ein goldenes Händchen attestiert hatten, schon früh um fünf das Kalenderblatt vom Vortag ab. Es war Samstag, der 1. April 1933. Johann Isidor spürte einen Brechreiz, der sich durch die Einnahme der gewohnten Baldriantropfen noch verstärkte. Beim Rasieren zitterte seine rechte Hand. Betsy, die er nicht hatte aufstehen hören, holte den Alaunstift aus dem weißen Schränkchen und hielt ihn ihm hin. Sie blieb im Badezimmer, während Johann Isidor das Blut auf seiner Wange stillte.
    »Du musst nicht hin«, sagte sie.
    »Doch«, stellte er klar, »ich muss. Mein Sohn hat auch nicht gekniffen.«
    »Otto war achtzehn und voller Hoffnung. Er kämpfte für eine gute Sache.«
    »Mut ist nicht eine Frage des Alters, meine Liebe, und gegen wen er kämpft, kann sich ein Mann nicht mehr aussuchen.«
    Eine Stunde früher als an den Tagen der Zuversicht verließ Johann Isidor Sternberg, dem die traditionsreiche Posamenterie in der Hasengasse, ein florierendes Textilgeschäft auf der Berger Straße und der im gesamten Nordend beliebte Weißwarenladen in der Glauburgstraße gehörten, seine Wohnung. Im schwarzen Mantel und in dem schwarzen Hut, den er sonst nur trug, wenn er in die Synagoge ging, stand er am schwarzen

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