02 Die Kinder der Rothschildallee
Betsys Schläfen pochte die Unruhe der Schuldbewussten. War es nicht sie gewesen, die ihren Töchtern stets gepredigt hatte, nie die Grenzen zu überschreiten, die den Juden gesetzt sind?
»Die Hühnerleber ist heute besonders schön. Vielleicht für die Vorspeise«, schlug der Metzgermeister vor. Er war ein eindrucksvoller Mann mit forschendem Blick und einer glänzenden Glatze. Betsy hatte er selten persönlich bedient, jedoch geleitete er sie zur Tür, als wäre sie eine Stammkundin. »Einen Gruß an den Herrn Gemahl, Frau Sternberg«, sagte er.
Seine Stimme war überdeutlich. Betsy war es, als würde diese volle, satte Stimme die ganze Freßgass füllen. Ihr Gesicht wurde feuerrot, die Haut brannte bis zum Nacken. Sie versuchte wie eine zu nicken, die anzeigt, dass sie verstanden hat, aber gerade nicht reden mag, doch ihr Hals war steif, in den Schläfen pochte Panik. Beschämt wühlte sie in ihrer Handtasche; sie hatte nur in großen Zeitabständen bei dem Metzger gekauft. Ihr erster Gedanke war, der Mann hätte sie mit einer anderen Kundin verwechselt, eine mit der richtigen Konfession, die sich vor nichts und niemanden zu fürchten brauchte. Kaum aber war Betsy drei Schritte gegangen, vermochte sie wieder logisch zu denken. Der Metzger hatte sie bestimmt nicht mit einer anderen Kundin verwechselt. Er hatte ja ihren Namen gekannt. Und er hatte auch gewusst, dass gehackte Hühnerleber zu den Delikatessen auf einem jüdischen Tisch gehört. Einen schrecklichen Augenblick, den sie nie mehr vergessen sollte, glaubte Betsy Sternberg, die noch vor drei Monaten eine Frau von Reputation und eine Frankfurter Bürgerin wie jede andere gewesen war, sie würde in Tränen ausbrechen. Auf der feinen Freßgass würde sie sich wie ein Dienstmädchen mit Liebeskummer die Augen rot heulen!
»Danke«, flüsterte Betsy, und dann sagte sie tatsächlich wie am Morgen zum Schaffner: »Pardon.«
Ihr wurde übel und schwindlig. Ihre Beine schmerzten, die Füße brannten: Sie hatte das Bedürfnis, sich auf die erstbeste Bank zu setzen, die Augen zu schließen und nie mehr aufzustehen, und trotzdem drängte sie mit der Kraft, die ihr zu eigen war, ins Leben zurück. Mit Riesenschritten lief sie fort vom Ort des Geschehens und so forsch, als hätte ein barmherziger Menschenfreund ihr Scheuklappen aufgesetzt, als würde sie nirgends ein Hakenkreuz sehen, keine strammen Hitlerjungen und keine Zeitungen mit Überschriften, die ihr Herz stocken ließen. In drei Minuten erreichte Betsy die Zeil. Ihr Herz schlug wieder regelmäßig, sie war ruhig, und sie fühlte sich, als wäre sie durch einen langen Tunnel ans Licht gekrochen.
Sie sah das Kaufhaus Wronker und lief darauf zu. Zwar merkte sie, dass ungewöhnlich viele Menschen und ungewöhnlich viele SA-Leute vor dem Geschäft standen, doch sie deutete nichts von dem, das sie sah als unangenehm, sondern ging hinein. Einen Atemzug lang genoss Betsy den Luxus und das Licht und das Gefühl, sie sei heimgekehrt. Sie fand sofort die Hutabteilung, entdeckte die kecke grüne Kappe, von der Alice ihr erzählt hatte, und kaufte sie. Seitdem die von ihr seit Kindertagen angeschwärmte Deutschlehrerin Fräulein Kranichstein auf einen Schlag um Beruf, Prestige, Einkommen und Zukunft gebracht worden war, war Alice niedergeschlagen und in sich gekehrt. Betsy musste ihre jüngste Tochter, zuvor die fröhlichste von allen, täglich aufs Neue überreden, morgens aufzustehen und zur Schule zu gehen. »Und was soll da ein grünes Mützchen helfen?«, hörte Betsy ihren Mann spotten.
Sie beschloss, das Frühlingswetter zu genießen und nach Hause zu laufen. Als junge Frau war sie die Strecke oft gegangen, doch nun erschien ihr der Weg viel länger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Auch steiler. Es war am Baumweg, als Betsy bewusst wurde, dass der freundliche Metzger keine Ausnahme gewesen war. In sämtlichen Geschäften in der Freßgass hatte man sie so zuvorkommend behandelt wie vor der Nazizeit. Freude und Erleichterung beschleunigten ihren Schritt, doch die belebende Hochstimmung hielt noch nicht einmal bis zum Merianplatz an. Als sie ihre Haustür aufschloss, ärgerte sich Betsy, dass sie ganz alltägliche Höflichkeit als eine besondere Gunst des Schicksals empfunden hatte.
Trotzdem erzählte sie beim Mittagessen ihrem Mann von ihren Erlebnissen und Empfindungen beim Einkauf. »Der nette Metzger mit dem guten Kalbsbraten lässt meinen Gemahl grüßen«, sagte sie.
Obwohl gerade Johann Isidor derjenige
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