02 Die Kinder der Rothschildallee
war, der ständig zur Geduld riet und immerzu seine Familie ermahnte, den Kopf nicht zu verlieren und nichts zu verallgemeinern, beschäftigte er sich weiter mit seiner Serviette. Er hatte sie in den Kragen gesteckt, nun zerrte er so aufgebracht an dem Leinentuch, als müsse er sich von einer Halsfessel befreien. Ohne seine Frau anzuschauen, erklärte er: »Täusch dich mal nicht, meine Gute. Solange es nicht ausdrücklich von ihrem Rudelführer verboten wird, sind sie durchaus weiter bereit, unser Geld zu nehmen und uns gnädig einen toten Fisch oder ein krepiertes Huhn vor die Füße zu werfen.«
»Du darfst nicht vor der Zeit bitter werden«, warnte Betsy.
»Hinterher wird es sich kaum noch lohnen«, erwiderte Johann Isidor.
Obwohl seine Frau genau wusste, weshalb ihr Mann so pessimistisch war und dieses Wissen sie vom Aufwachen bis zum Einschlafen bedrohte, blieb sie gerade deshalb bei ihrem ursprünglichen Plan. Sie hatte in Krisen und im Kampf immer auf den gewohnten Ablauf des Lebens gesetzt. »Wir werden morgen um halb acht mit dem Essen beginnen«, erklärte sie den Ihrigen. Keiner gab der Versuchung nach, zu sagen, was ihn bewegte. Eine Stunde vor Sonnenuntergang waren Clara, Erwin und Alice, Claudette und Anna sowie Victoria und Doktor Fritz Feuereisen mit ihren zwei Kindern zur Stelle, um den Sabbat willkommen zu heißen. Aus der Küche duftete es nach Hühnerbrühe, in der Speisekammer standen die selbst gemachten Nudeln und die große Kompottschüssel mit den Pfirsichen, die Josepha im Sommer eingemacht hatte, daneben der Glaskrug mit Vanillesoße.
Frau Wilhelmine aus dem Westend, Fritzens Mutter, war telefonisch eingeladen worden. Betsy hatte es gefreut, dass ihr Gast ohne das beleidigende Zögern zugesagt hatte, das den Leuten vom Westend nachgesagt wurde. Um deutlich zu machen, dass sie sich nicht als Gast fühlte, sondern als Teil der Familie, klingelte die vitale Witwe schon nachmittags um fünf an der Wohnungstür. In einem kleinen Korb saß ein betagter Plüschhund für ihre Enkeltochter. Als Fannys Vater noch der kleine Fritz gewesen war, hatte er dem gerupften Tier das rechte Ohr abgerissen. Ihrer Gastgeberin überreichte Frau Feuereisen einen üppigen Strauß gelber Rosen. Auch den Blumen war anzusehen, dass sie aus zweiter Hand stammten.
Die welkenden Rosen erinnerten die lächelnde Beschenkte an die herrlichen Geschichten, die Fritz, wenn in guter Laune, von der Sparsamkeit seiner Mutter erzählte. Ebenso wenig wie Betsy ließ sich die Witwe Feuereisen anmerken, dass der 31. März 1933 für die jüdischen Bürger in Frankfurt ein Tag von bedrückter Spannung war. Das Unvermögen zu begreifen, was bevorstand, lähmte Mutige und die ohne Hoffnung, die Starken und die Schwachen.
Der weiß eingedeckte Tisch im Esszimmer war mit winzigen rosa Glasvasen geschmückt. Sie waren ein seinerzeit viel belachtes Hochzeitsgeschenk von Großtante Jettchen, alten Posthörnern nachgebildet und mühsam zu reinigen. Victoria vermochte sie nie anzuschauen, ohne dass die Sehnsucht nach ihrer Kindheit und dem geliebten Tantchen sie noch verletzlicher machte, als sie war. In jedem kleinen Glashorn steckte entweder ein frühes Veilchen oder ein verspätetes Schneeglöckchen. »Und es muss doch Frühling werden«, flüsterte Erwin in Claras Ohr.
»Halt den Mund!«, raunte Clara. »Lass wenigstens die Kinder und die, die es sein wollen, in dem Glauben, dass Gott mit den Juden ist.«
Fanny streckte ihre begehrliche Rechte nach einer Vase aus. Ihre väterliche Großmutter hielt die Kinderhand fest, ehe sie das erste Veilchen erreichte. »Darf das ein artiges Mädchen?«, fragte sie streng.
»Ja«, trompetete Fanny. Sie machte sich frei vom großmütterlichen Zugriff, klatschte in die Hände und schaukelte ihren Kopf von einer Seite zur anderen.
Es war das erste Mal, dass die zweijährige Prinzessin mit den Erwachsenen am Esstisch speisen durfte. Ihre Mutter hatte ihr das bordeauxrote Samtkleid mit der breiten weißen Seidenschärpe angezogen; der stolze Tochtervater hatte es im vergangenen Jahr auf einer Geschäftsreise in Paris gekauft. Das teure Prachtgewand – mit passenden Schuhen und farblich passender Unterwäsche – war für die aufwendigen Kinderfestlichkeiten gedacht gewesen, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit im großen Freundeskreis veranstaltet wurden und die Frau Betsy der Pädagogik wegen bei ihren eigenen Kindern stets sehr sparsam dosiert hatte. »Sie müssen nicht auf jeder Hochzeit
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