02 Die Kinder der Rothschildallee
der Tram aus den Eindruck, die Welt wäre soeben erst erschaffen worden. Betsy fiel ein, dass sie ihren Kindern im März immer erzählte hatte, im Frühjahr würden Gott und seine Engel mit weißen Eimern und Riesenbürsten losziehen, um die Baumstämme zu schrubben und die Wolken in goldenen Bottichen auszuwaschen. Otto und Clara hatten ihrer fabulierlustigen Mama kein Wort geglaubt und ungeniert die scheußlichsten Grimassen geschnitten, Erwin und später Victoria, Anna und Alice hatten sich nie satt hören können. Anna hatte zum Geburtstag ihres Vaters ein Bild von den wolkenwaschenden Engeln gemalt und auf der Strickliesel aus grüner Wolle einen Bilderrahmen geknüpft.
Energisch schluckte Betsy die Wehmut hinunter, doch ihr Lächeln konnte sie nicht zurückholen. Bis zur Haltestelle Alte Gasse grübelte sie, ob der junge Schaffner mit dem feschen Schnauzer sie beobachtet und ihr Lächeln erwidert hatte oder ob eine einundsechzigjährige Großmutter, wenn sie sich nicht fest an die Kandare nahm, wieder zum selbstverliebten Backfisch wurde und jeden Blick und jede Äußerung auf die eigene Person bezog.
»Auf Wiedersehen«, sagte Betsy beim Aussteigen.
Es war nicht zu übersehen, dass der Schaffner zusammenzuckte. Er starrte den Holzkasten mit dem Silbergeld und den Fahrscheinen an, der von seinem Hals herunterhing und auf dem Ansatz seines Bauches ruhte. Als hätte er Angst, seine rechte Hand, würde ihm abhandenkommen, bohrte er sie tief in die Hosentasche.
»Pardon«, sagte Betsy. Verblüfft schaute sie der abfahrenden Tram nach. Ihrer Lebtag hatte sie sich nicht von einem Straßenbahnschaffner verabschiedet; sie fand ihre Redseligkeit unpassend und albern, war jedoch nicht besonders beunruhigt. Viel mehr beschäftigte sie der Umstand, dass sie offenbar bereits so sehr an die Veränderungen gewöhnt war, die die Juden in Deutschland zu Menschen zweiter Klasse degradierten, dass ihr Herz nicht aufmuckte.
Um die Hauptwache herum, am Rossmarkt und in der Schillerstraße flatterten die Hakenkreuzfahnen an wesentlich mehr Gebäuden, als Betsy erwartet hatte. In einer Konditorei, über einer Schokoladentorte mit Marzipanrosen hing – wohl schon für seinen Geburtstag am 20. April – ein großes Hitlerbild in einem schokoladenbraunen Rahmen. In der Biebergasse kam Betsy eine Gruppe von Pimpfen in kurzen Uniformhosen und mit blau gefrorenen Beinen entgegen. Die Knaben marschierten hinter ihrem Rottenführer her, einem baumlangen Jüngling, mit breiten Schultern und einer unangenehm lauten Stimme, die fortwährend Befehle schrie, von denen Betsy keinen einzigen verstand. Die Jungen schmetterten die Marschlieder, die die Lieder aus der Zeit der Wandervögel ersetzt hatten. Die kleinen Kämpfer waren alle etwa elf Jahre alt. Betsy stellte sich vor, ihre Mütter würden darauf achten, dass sie ihre Schulranzen ordentlich packten und vor dem Schlafengehen beteten. Ihr fiel auf, wie hart und verbissen der Gesichtsausdruck von Deutschlands künftigen Soldaten war.
Trotzdem schlenderte Frau Betsy Sternberg, der ein jeder seit ihrer Jungmädchenzeit eine wache Intuition für das Leben und die Menschen attestiert hatte, so entspannt zur Freßgass, als wäre sie auf einer Expedition im Dschungel gewesen und hätte die Entwicklung der letzten drei Monate in ihrer Heimat nicht mitbekommen. In den teuren Geschäften der Freßgass, von denen sie sonst zu sagen pflegte: »Auch bei denen ist nicht alles Gold, was glänzt«, kaufte Betsy für den Sabbat ein – ein besonders fettes Suppenhuhn aus der Rhön, dazu Suppengrün mit einer Extraportion Sellerie und den ersten grünen Salat der Saison. So früh im Jahr stammte er noch aus dem Gewächshaus. Sonst ließ ihn die sparsame Hausfrau aus dem Nordend mit der Begründung liegen, sie wohne zwar in der Rothschildallee, »aber dem Rothschild sein Geld haben wir noch lange nicht«. An diesem außergewöhnlichen Donnerstag aber ließ sie den Salatkopf in das bereitliegende Zeitungspapier wickeln – ironischerweise war es das Naziblatt »Der Völkische Beobachter«, von dem selbst Josepha sagte: »Der kommt uns nicht ins Haus.«
Ohne sich vorher nach dem Preis zu erkundigen, erwarb Frau Betsy für ihre berühmten Fischklößchen in schaumig geschlagener Buttersoße einen kapitalen Hecht. Zum Schluss wanderte ein Kalbsbraten in ihr Einkaufsnetz. In Format und Farbe erinnerte der die Hausfrau auf geradezu provozierende Weise an die Zeiten von Zuversicht und Selbstbewusstsein. In
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