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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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dass Tante Jettchen ihr eine Kette mit großen Korallenkugeln und Diamantbaguettes geschenkt hatte. »Was war eigentlich in Baden-Baden los?«, fragte sie.
    »Was soll schon los gewesen sein? Wir sind hingefahren«, sagte Erwin, »dann ist der Krieg ausgebrochen, und wir sind wieder heimgefahren. Alles in einer Woche, und du hast wie ein Schlosshund geheult, weil du die dir für gutes Betragen zugesagten Pflaumen in Goldpapier nicht mehr bekommen hast.«
    »Genug«, befahl Johann Isidor mit dem gestrengen Vaterblick der alten Autoritätszeit. Er hatte sich nach den Segenssprüchen nicht wieder hingesetzt, wie es üblich war und wie die Familie erwartete. Nun verließ er zur Beunruhigung seiner Frau und zum Befremden seiner Kinder seinen Platz am Kopf der Tafel und ging auf seine Köchin zu. Josepha stand mit der großen Suppenterrine am frisch polierten Büfett. Die sorgsam frisierte Köchin in ihrem schwarzen Feiertagskleid war noch ungeduldiger als sonst. Wurde im Hause Sternberg vor dem Essen gebetet, machte sie sich seit dreiunddreißig Jahren Sorgen, die Suppe könnte kalt und der Eierstich, für den sie von jedermann gelobt wurde, zu fest werden.
    »Einen Moment«, sagte der Hausherr. Er nahm Josepha die Suppenschüssel aus den Händen und stellte sie auf den roten Servierwagen. Dann, mit einer weit ausholenden Bewegung, die allen auffiel, weil sie so gar nicht zu seiner Scheu vor der großen Geste passte, griff Johann Isidor nach der rechten Hand seiner Köchin. »Danke, Josepha«, sagte er mit ungewöhnlich feierlicher Stimme, »das werde ich Ihnen nie vergessen.«
    »Keiner von uns wird je vergessen, was Sie getan haben«, sekundierte Frau Betsy. Auch ihre Stimme war nicht wie sonst, war zu hoch, klang unsicher. »Sie haben mehr Mut gezeigt als wir alle«, sagte Betsy.
    »Jetzt setzen Sie sich endlich zu uns«, polterte der Hausherr, doch der Befehlston gelang ihm nur im Ansatz; er schüttelte den Kopf, als wollte er sich zur Räson rufen. Trotzdem vertraute er weiter seinem Witz. »Sonst bitte ich meinen verehrten Schwiegersohn, uns die liebenswürdige Gustel auszuleihen«, drohte er. Er erwartete, seine Kinder würden lachen, wenigstens Claudette, die ja auch die schlechtesten Scherze zu würdigen pflegte, die ihr Großvater machte, doch nur Fanny, die Weinberauschte, lächelte ihn an. Alle anderen fixierten den Goldrand ihrer leeren Suppenteller. Selbst Alice und Claudette, die beide noch zu Fastnacht an die belebende Kraft von bunten Papiermützen und Senf im Kreppel geglaubt hatten, spürten einen Druck in der Kehle und wünschten sich in das Leben ohne Schatten zurück, in die Sicherheit und die Ahnungslosigkeit von gestern.
    Josepha ließ sich schließlich doch überreden, sich auf den von Frau Betsy eingedeckten, von ihr bis dahin nicht bemerkten Platz zwischen Clara und Erwin zu setzen. Ihre Tränen tropften auf den weißen Spitzenkragen aus der Posamenterie Sternberg. Sie weinte mit eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf. Das Salz drückte in ihren Augen, sie konnte es riechen und schmecken. Nur wehren konnte sie sich nicht, nicht gegen diese neuen Gespenster, die eine Familie bedrohten, die Josepha als die ihrige empfand. Der Suppenlöffel fiel ihr aus der Hand; sie schlug sich auf den Mund, stammelte eine Entschuldigung, wollte einen anderen Löffel holen, doch Anna stand bereits hinter ihr. Die Zupackende drückte Josepha zurück auf ihren Stuhl, sagte ganz leise: »Nein«, ging zum Büfett und zog den Besteckkasten auf.
    »Bei uns haben die Kinder immer mit Löffeln geworfen«, sagte Erwin, »erinnern Sie sich denn nicht mehr, Fräulein Krause?«
    »Das gehört sich nicht, dass die Köchin mit am Tisch sitzt«, schluchzte Josepha, »das hat es bei uns nie gegeben. An keinem Tag, seit ich in diesem Haus bin, hat es so was gegeben. Dieser Hitler bringt noch die ganze Welt durcheinander.«
    »So recht hatten Sie noch nie, Josepha«, sagte Johann Isidor. »Wir werden alle noch das Staunen lernen. Bei der vornehmen Familie Sternberg, die zu lange ihre Schnitzel von goldenen Kälbern hat schneiden lassen, wird es noch vieles geben, was es vorher nicht gegeben hat. Die Sternbergs, müssen Sie wissen, Josepha, ziehen nämlich derzeit nur Nieten.«
    Claudette war als Erste mit ihrer Suppe fertig. Sie war auch die Erste, die zu dem gewohnten Ton des Hauses zurückfand. Hatte sie ihre Unbefangenheit wiedergefunden, oder hatte sie sich nur geschickt zu verstellen gelernt, seitdem ihre beste Freundin sie

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