02 Die Kinder der Rothschildallee
Lackschuhen vor dem Spiegel stehen sah.
»Um zu beten, dass er aus meinem ekligen Bruder einen Menschen macht«, beschied ihm Alice Woche für Woche. Die Demütigungen in ihren letzten Schulwochen und der trotzdem vor ihr nicht erwartete Hinauswurf hatten sie verändert. Das sternbergsche Nesthäkchen war reif geworden, noch eitel zwar, doch nicht mehr so selbstbezogen wie in glückhafter Mädchenzeit. Auch hatte Alice gelernt, über sich selbst zu lachen. Nun war sie verliebt.
»Verschossen bis über beide Ohren«, erzählte Frau Betsy ihrem Mann. Sie hatte, obwohl die Zeiten nicht mehr danach waren, das wachsende Gras zu belauschen, mit gewohnter mütterlicher Umsicht bei ihren Freundinnen und Bekannten recherchiert. Der junge Mann hieß Leon Zuckermann. Er war Vaters Stolz, fleißig und begabt, hatte in der Schule eine Klasse übersprungen, das beste Abitur seiner Klasse gemacht und sollte im nächsten Semester mit seinem Medizinstudium beginnen. Die Familie war religiös, der Vater, ein Kürschner mit drei Angestellten, war ein wenig cholerisch, aber herzensgut, die Mutter kränkelte. Leon hatte drei ältere Brüder. Mit dem ältesten, einem Religionslehrer, ging er jeden Sabbat in die Synagoge in die Börnestraße. Noch nicht bekannt war im Hause Sternberg, dass der junge Zuckermann an den Sonntagnachmittagen mit Alice im Grüneburgpark flanierte. Dort träumten die jungen Leute von einem ganz neuen Leben, in dem sie unter Olivenbäumen wanderten und Feigen aßen und darauf warteten, dass aus Palästina eine Heimstatt für die Juden wurde. Im Übrigen wurde Leon von seinen Eltern und den vier Brüdern regelmäßig befragt, wie streng seine Angebetete erzogen worden sei und ob der sternbergsche Haushalt koscher wäre.
Die Rothschildallee war besonders prächtig an diesem unheilvollen 1. April, die Forsythienbüsche eine Symphonie in Gelb, ebenso die Tulpen und Osterglocken in den Vorgärten. Meisen und Amseln vergnügten sich sangesfroh auf Bäumen und Hecken. Im schönen Fachwerkhaus an der Kreuzung zur Günthersburgallee war der Mandelbaum über Nacht erblüht. Kirschblüten lockten die ersten Bienen an. Magnolienbäume überboten sich in ihrer Pracht, die Kastanien hatten üppige Kerzen, der Flieder war zum Bersten bereit.
An der Litfaßsäule am Friedberger Platz sang kein einziges Plakat ein politisches Lied. Eine Dame in Weiß mit einem wagenradgroßen Hut und wippenden Rock warb für Persil, die Deutsche Lufthansa machte mit zwei Frauen im schwarzen Badeanzug Reklame. Sie waren beide gut genährt, nussbraun gebrannt und winkten einem tief fliegenden Flugzeug zu. Ein Plakat wies noch auf eine Veranstaltung mit dem Magier Hanussen hin. Er war vor einer Woche umgekommen. Keiner wusste, was geschehen war; man hatte seine Leiche noch nicht gefunden. Hinter Hanussens Namen hatte jemand ein Sterbekreuz gemalt. Johann Isidor war noch mit Hanussen und dem Gerücht beschäftigt, der Magier hätte den Reichstagsbrand drei Tage vor dem tatsächlichen Geschehen prophezeit, als er die erste Naziproklamation entdeckte. Es war in der Friedberger Landstraße. Der Schock, zwar schon auf der Rothschildallee erwartet und eine ganze Woche lang wie eine Seuche gefürchtet, war gewaltig.
Ein großes, schwarz beschriftetes Schild klebte an der Schaufensterscheibe eines kleinen Textilladens. Das unscheinbare Geschäft war Johann Isidor zuvor nie aufgefallen. Er las die Schmähschrift Wort für Wort und hörte sein stolperndes Herz um Hilfe schreien. Sein Gesicht erstarrte.
»Wer beim Juden kauft, ist ein Verräter. Am 1. April, vormittags 10 Uhr, beginnt des deutschen Volkes Abwehrreaktion gegen den jüdischen Weltverbrecher«, las der jüdische Geschäftsmann Johann Isidor Sternberg. Seine Augen konnten sich vom Text nicht lösen. Die Buchstaben wurden zu einem schwarzen, wabernden Brei. Angst und Verzweiflung prügelten mit Keulen auf ihn ein.
Ihm fiel der Dorftrottel zu Hause in Schotten ein. Der hatte immer so vor sich hin gestiert, wie er es nun tat. Christian, der Sohn vom Lehrer Baumann, hatte mit erhobener Rechter geschworen, der arme Irre hätte vor dem Teufel gestanden und es nicht gemerkt, sein Haar wäre am Höllenfeuer verbrannt und die Zähne wären ihm aus dem Mund gewachsen. Beim Abendessen hatte der kleine Josi die Geschichte vom Teufel erzählt. Vom Vater hatte er eine Maulschelle und von der Mutter keinen Nachtisch bekommen.
»Nein«, wehrte sich Johann Isidor Sternberg. So leise wie damals. Er war
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