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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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mit dem Schwanz. Der grölende Riese sagte »brav« und warf ihm ein Stück Wurst zu. Posamentier Sternberg, der unbefleckte deutsche Bürger und Handelsmann, begriff, dass er Freiwild geworden war, doch er wagte nicht, sich vom Marktplatz der Sensationen zu entfernen.
    Ein älterer Mann mit auffallend blassem Teint und auffallend kleinen Augen packte ihn am Mantelkragen. Der Griff war nicht fest und auch nicht grob. Er schien eher unbeabsichtigt, doch Johann Isidor geriet sofort ins Wanken. Seine Füße rutschten unter ihm weg. Schon als Kind – und später auch als Mann – hatte er gelitten, wenn Fremde ihn anfassten. Noch immer wich er vor ungebetener Berührung zurück. Selbst wenn es die Höflichkeit gebot, konnte er seinen Widerwillen vor aufgezwungener Intimität nicht unterdrücken. Nun, da er nicht mehr die eigenen Handlungen und Reaktionen zu bestimmen hatte, traute er sich schon gar nicht mehr, sich ungebetenem Zugriff zu entziehen.
    »Gehen Sie doch weiter«, drängte der Fremde. »Das hier ist nichts für einen Mann in Ihrem Alter, Herr Sternberg.«
    Es war die hohe Stimme, die Johann Isidor erkannte. Der Mann, der ihm so nahe gekommen war, dass er seinen Atem riechen und die Goldplomben in seinen Backenzähnen sehen konnte, war Pius Ehrlich, sein ehemaliger Kompagnon im Postkartenverlag. Johann Isidor hatte nur noch selten an seinen Partner aus den Zwanzigerjahren gedacht. Jahrelang hatte er mit ihm zusammengearbeitet, doch die Erinnerungen waren verweht. Ob Pius Ehrlich gekommen war, um sich bei Johann Isidor zu revanchieren, weil der ihm einmal zinslos Geld geliehen und sich auch bei dessen Ausscheiden großzügig gezeigt hatte? War Pius Ehrlich ein Menschenfreund, der eine gute Tat nicht vergaß, ein von Gott gesandter Beschützer der Gehetzten? Wollte er einen querköpfigen alten Mann, der nicht den Verstand gehabt hatte, auf seine Frau zu hören und zu Hause zu bleiben, vor einer Menschenrotte retten, die kleine Kinder hochhielt, damit sie beizeiten gaffen und schmähen und die Unschuldigen jagen lernten?
    »Gehen Sie nach Hause, Herr Sternberg«, wiederholte Pius Ehrlich. Wie früher, kniff er im Zustand der Erregung die Augen zusammen.
    Johann Isidor stöhnte wie einer, der aus tiefem Schlaf erwacht ist; er war bestürzt, dass er sich so in Pius Ehrlich getäuscht hatte. Der Mann war ihm immer bauernschlau, unaufrichtig und neidisch erschienen, manchmal auch den Juden übel gesinnt, zumindest jüdischen Konkurrenten, die geschickter und erfolgreicher waren als er selbst. Wie oft hatte Johann Isidor zu Hause gespottet, dass das Schicksal sich seltsame Scherze erlaube, wenn ausgerechnet so ein Giftzwerg Ehrlich hieß. Ja, Giftzwerg hatte er gesagt, und danach war Victoria, der ewigen Lauscherin, das Wort nicht mehr auszutreiben gewesen. Nun war der Mann, den der vermeintliche Menschenkenner Sternberg so gründlich verkannt hatte, aus der Vergangenheit gekommen, um einem Menschen in Not beizustehen. Bestimmt war er ein gläubiger Christ und Nächstenliebe für ihn ein Gottesgebot. Johann Isidor Sternberg zitterte. Es verlangte ihn, auf der Stelle und so laut, dass es ein jeder hören konnte, publik zu machen, wie sehr es ihn bekümmerte, dass er Pius Ehrlich und seinen lauteren Charakter nicht gewürdigt hatte. Der reuige Sünder wurde von einer Faust aus Eisen in die Hölle zurückgestoßen, in der allein Terror und Gewalt den Lauf der Welt bestimmten. Schaudernd begriff Johann Isidor Sternberg, dass er kein Gebet mehr würde sprechen können, wenn der Henker die Schlinge knüpfte. Er war Zeit, sich zu wehren. Er riss die Arme hoch.
    »Komm, Vater«, sagte Anna, »lass uns gehen.«
    Johann Isidor wusste nicht, woher die Stimme kam und wem sie gehörte. Die Schläge seines Herzens dröhnten dumpf, in seinen Schläfen trommelte der Schock. Gleichgültig, ob er seine Augen aufmachte oder zu, sie nahmen nur ein einziges Bild wahr, und das hielt er für Trug und Hohn. Er sah eine junge Frau in einem hellen Mantel, ein Maiglöckchenstrauß aus weißem Chiffon am Revers, blondes Haar unter einer dunkelblauen Baskenmütze. Johann Isidor versuchte, die Hand abzuschütteln, die ihn festhielt, er schaute aus nach Pius Ehrlich, diesem neuen Freund in der Stunde der Not. Er schwankte wie ein Baum mit morschen Wurzeln im Sturm, sah sich fallen, wollte um Hilfe rufen, denn er hatte vergessen, dass es für seinesgleichen Hilfe nicht mehr gab. Arme aus Stahl fingen ihn auf. Er wehrte sich, sagte, er müsse

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