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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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fliehen und käme erst dann nach Hause, wenn ein Jude wieder Mensch sein durfte.
    »Psst«, sagte eine Stimme, die er kannte, »nicht hier.«
    Die Benommenheit schwand, der barmherzige Seelenschutz wurde von dem zurückgefordert, der ihn gewährt hatte. Johann Isidor, dem seine Landsleute den Stolz und die Würde genommen hatten und für alle Zeiten seine Ehre, war wieder imstande zu reden. Nur entstammten seine Worte einer Welt, die nicht mehr war.
    »Wir wollen gehen, Vater«, drängte Anna.
    Er wollte seiner mutigen Tochter erzählen, was er in der Friedberger Landstraße gesehen hatte. Noch stärker war das Bedürfnis, Anna durch das Spalier der Gaffer zu führen und ihr vorzuführen, dass auch die Scheiben der Posamenterie Sternberg den Vandalenhänden nicht entkommen waren. »Gebrandmarkt«, stieß er hervor, »gebrandmarkt wie im Mittelalter.«
    »Ich weiß, Vater«, sagte sie.
    Er stampfte mit dem rechten Fuß auf, zeigte den Unwillen der Düpierten, fragte streng und als wäre nur diese eine Frage von Bedeutung: »Wo kommst du überhaupt her?«
    Die Wärme von Annas Körper erreichte den seinen. Die Tochter sah, dass die Lippen ihres Vaters nicht mehr blau waren, die Augen nicht mehr tot. Sie nahm seine Hand und führte sie an ihre Stirn; beider Lippen bewegten sich, doch es gelang ihnen nicht, einander zuzulächeln. »Später«, sagte er.
    Er nahm seinen Hut ab und setzte ihn wieder auf, straffte die Schultern wie ein Mann, der viel Kraft hat und auch die Entschlossenheit, die Zügel des Lebenswagens in seinen Händen zu halten. Noch gab er nicht auf, denn er wurde wieder Vater, Herr im Haus, der besorgte Hüter der Herde. »Ich habe dir doch verboten, das Haus zu verlassen«, hielt er der eigenmächtigen Tochter vor.
    »Mutter hat mich geschickt. Sie hat Angst um dich gehabt.«
    »Um Gottes willen, Anna! Was ist mir dir? Deine Mutter ist doch tot. Schon so lange tot, meine Fritzi.«
    »Hast du vergessen, dass ich zwei Mütter habe, Vater?«
    Die Tochter, von der keiner wissen durfte, dass er sie mehr als seine übrigen liebte, ließ seine Hand nicht mehr los. Sie führte ihn durch Straßen nach Hause, in denen es ausschließlich kleine Läden gab und insgesamt nur drei mit Hetzparolen gegen die Juden an den Schaufensterscheiben. In den Nebenstraßen und Gassen der einstigen Freien Reichsstadt Frankfurt war die neue Zeit noch nicht erwacht. Da waren ordentlich gekehrte Bürgersteige wichtiger als die politische Gesinnung der Bürger, die Stiefel standen noch im Schrank, sie marschierten nicht mit, die Rattenfänger schonten noch ihre Flöten. Humanität, Tradition und Liberalität wurden auf den Nebenschauplätzen der Stadtgeschichte langsamer zu Grabe getragen als auf dem Römerberg und auf der Zeil. Jedoch selbst Anna, die Meistertaktikerin, konnte nicht verhindern, dass ihr Vater die beschmierten Schilder der jüdischen Anwälte und Ärzte sah. Das Hakenkreuz war der neue deutsche Galgen.
    »Also die auch. Sollten wir nicht nachsehen gehen, ob diese Verbrecher auch bei Fritz gewesen sind? Ich möchte nicht, dass er nicht weiß, was ihn erwartet, wenn er am Montag ins Büro geht.«
    »Ich war schon in der Biebergasse«, sagte Anna. »Es hat mir den Magen umgedreht. Nur noch sein Name und das Wort Jude sind auf dem Schild zu lesen. Fritz weiß es schon. Aber Vicky noch nicht. Er will es ihr erst am Abend sagen. Er wollte, dass sie noch den Tag bei ihrer Freundin Jeanette genießt. Die beiden haben sich ewig nicht gesehen. Jeanette war doch so lange in Davos.«
    »Arme Vicky. Sie hat nie zu tragen gelernt. Und armer Fritz, der nun für zwei zu tragen hat. Heute braucht ein Mann eine Frau wie meine Betsy, um nicht aufzugeben.«
    »Das kommt noch, Vater. Vicky ist doch noch ein Kind.«
    »Sie ist so alt wie du, Anna. Fünfundzwanzig. Doch sie hat kein Talent zum Erwachsenwerden.«
    Unmittelbar vor dem Uhrtürmchen am Anfang vom Sandweg tauchte Pius Ehrlich wieder auf. Er sah aus, als wäre er durch Gestrüpp gekrochen, das Haar war windzerzaust, an den Schuhen klebte Lehm. Eine große Klette hing an seinem Ärmel. Er hatte wieder die Gesichtszüge, an die sich Johann Isidor erinnerte – kleine Augen, lauernder Blick, Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Der Kurzgewachsene steckte seine Hände in die Manteltaschen und seinen Kopf vor. »Ich wollte Ihnen noch sagen, dass Sie sich erst an mich wenden sollten, ehe Sie die Posamenterie verkaufen, Herr Sternberg. Das gilt natürlich auch für Ihre

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