02 Die Kinder der Rothschildallee
anderen Geschäfte. Im Gedenken an die alten Zeiten werde ich zusehen, dass ich Ihnen einen anständigen Preis mache. Anständigkeit zahlt sich aus. Heißt es.«
»Aber ich habe doch gar nicht vor, meine Geschäfte zu verkaufen, Herr Ehrlich. Wie kommen Sie darauf?«
»Wie Sie meinen, Herr Sternberg, ganz, wie Sie meinen. Wie sagt doch der deutsche Volksmund? Jeder ist seines Glückes Schmied. Ich füge hinzu: Der Kluge zaudert nicht. Pius Ehrlich macht ein gutes Angebot immer nur ein einziges Mal. Das habe ich ja von Ihnen gelernt. Das war ein guter Rat, Herr Sternberg.«
Er sah aus, als wollte er lachen, doch er tat es nicht. Ohne Abschiedsgruß eilte er davon. Noch ehe er den Sandweg erreichte, war er außer Sicht. Von der Statur her war Pius Ehrlich kein Mann zum Fürchten, aber sein ehemaliger Partner fürchtete sich doch.
Der Boykott gegen die jüdischen Geschäfte, Arztpraxen und Anwaltskanzleien richtete sich auch gegen Zeitungshändler sowie gegen jüdische Kiosk- und Kinobesitzer. Beim Rundfunk durften jüdische Angestellte nicht an ihre Arbeitsplätze. SA und der Nationalsozialistische Studentenbund randalierten an der Universität und nahmen jüdischen Studenten und solchen, die sie für marxistisch hielten, die Ausweise ab. Oberbürgermeister Krebs verfügte, dass die Stadtverwaltung nicht mehr bei Juden einkaufen durfte. »Erfolgreiche Maßnahmen« einer inszenierten Volksempörung wurden auch vom Theater gemeldet.
Der Boykott der jüdischen Geschäfte hatte ursprünglich bis zum 4. April gehen sollen, doch brachte er nicht die von der NSDAP erwartete Wirkung und wurde vorzeitig abgeblasen. Die »Frankfurter Zeitung«, von der es hieß, bei ihr müsse man zwischen den Zeilen lesen, um zu wissen, was »wirklich« in Deutschland geschehe, berichtete: »Die Boykottbewegung gegen die jüdischen Geschäfte ist in Frankfurt, soweit sich das feststellen lässt, völlig ruhig verlaufen.«
»Soweit sich das feststellen lässt«, spottete Erwin. Er war nicht mehr der Skeptiker aus Passion, er war ein klarsichtiger junger Mann mit ausgeprägtem Empfinden für die Hölle, die die Nazis planten. Vor allem ließ Erwin es nicht zu, dass sein Vater den frühzeitigen Abbruch des Boykotts und die Meldung in der »Frankfurter Zeitung« als Sieg der Vernunft verbuchte. »Geschweige denn als einen Hoffnungsschimmer«, warnte er am Frühstückstisch, »das war nur der Anfang.«
Als eine Woche später den ersten Juden die Zulassung als Anwalt entzogen wurden, erfuhr Erwin es nicht als Erster. Sein verzweifelter Schwager Fritz vertraute sich zunächst nur seinem Schwiegervater an. »Wir müssen Geduld haben und es in Würde aussitzen«, befand Johann Isidor der Unverbesserliche. »Das Ausland wird nicht mehr lange tatenlos zusehen, was hier geschieht.«
Das Gleiche sagte er, als am 10. Mai ein Riesenfeuerwerk am Römerberg loderte. Verbrannt wurde Weltliteratur – von jüdischen Autoren und politisch missliebigen. Auf einem von zwei Ochsen gezogenen Bauernkarren wurden Bücher zum Richtplatz geschleift, die eine Woche zuvor noch in jeder Buchhandlung und Bibliothek gestanden hatten. Ein evangelischer Studentenpfarrer hielt die Brandrede. Den Flammen übergeben wurden die Bücher von Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Erich Kästner und Karl Marx, von Philosophen, Dramatikern, Forschern und Nobelpreisträgern, von Arnold und Stefan Zweig, Ernst Glaeser, Erich Maria Remarque. Es brannten die Werke von Alfred Kerr, Magnus Hirschfeld, Martin Buber, Sigmund Freud und von unzähligen anderen, die für deutsche Kultur standen. Heinrich Heine, der Prophet, der geschrieben hatte: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«, verschwand aus den Schulbüchern. Unter seiner »Loreley« hatte fortan »Dichter unbekannt« zu stehen.
»Zur Goethezeit haben die Veranstalter von Autodafés noch Zeugen und einen Notar geholt«, sagte Erwin, »er erzählt davon in Dichtung und Wahrheit.«
Claudette meinte: »Ein Buch fühlt doch keinen Schmerz«, und konnte es nicht fassen, dass ihre Mutter nach ihr schlug und dann in Tränen ausbrach. Kurz darauf war es Claudette, die weinte. Die Rothschildallee, in der sie geboren und aufgewachsen war, war umbenannt worden. Sie hieß nun Karolingerallee. Vielen Frankfurter Straßen erging es ebenso. Aus dem Börneplatz wurde der Dominikanerplatz, aus dem Börsenplatz der Platz der SA. Der Rathenauplatz wurde zum Horst-Wessel-Platz, die Sophienstraße bekam den Namen des
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