02 Die Kinder der Rothschildallee
Afrikahelden Lettow Vorbeck, die Stresemannallee hieß Blücherstraße. Die Untermainbrücke wurde zur Adolf-Hitler-Brücke.
»Ich werde nie Karolingerallee sagen, wenn mich einer fragt, wo ich wohne«, trotzte Claudette, »nie, nie.«
Ihr Onkel bat sie, ihn in den Huthpark zu begleiten. Dort versuchte er, der Fünfzehnjährigen zu erklären, was nicht zu erklären war. Er sprach über falsches Heldentum und die Klugheit des Schweigens. »Du bringst uns alle in Gefahr, wenn du dich nicht fügst. Das wäre nicht Mut, das wäre Wahnsinn.«
Zu Claudettes neuem Vokabular gehörte das Wort »Arier«. Sie allerdings war »Nichtarierin«. Das bedeutete, dass in der Schule kein Mädchen neben ihr sitzen wollte. Die Klassenlehrerin, Parteimitglied der ersten Stunde, hatte Verständnis für das Bekenntnis der Jugend zum Vaterland. Claudette Sternberg wurde der bisher nie besetzte Platz in der hinteren Reihe zugewiesen. Ihre Aufsätze wurden nicht mehr zensiert, an Wandertagen saß sie allein in der Klasse.
Ihre verzweifelte Mutter, ihr geliebter Onkel Erwin und die bestürzten Großeltern debattierten, ob es dem sensiblen Mädchen zuzumuten war, die Schikanen einer Oberstudienrätin an einem deutschen Gymnasium bis zum Abitur zu ertragen – also noch gut drei Jahre. »Wozu Abitur?«, fragte Erwin. »Die Universitäten sind dabei, judenfrei zu werden.«
Die Diskussion über Claudettes Zukunft schwelte noch, als dem Rechtsanwalt und Notar Doktor Fritz Feuereisen das Urteil seiner beruflichen Vernichtung zugestellt wurde. Ab sofort hatte er Auftrittsverbot. Seine Berufung als Notar war mit sofortiger Wirkung erloschen. Im Juli 1933 folgte dann das endgültige Berufsverbot.
Es war das erste Mal seit einer mit Mangelhaft benoteten Mathematikarbeit in der Quinta, dass Friedrich Feuereisen weinte. Er saß an seinem Schreibtisch, an dem bald ein arischer Kollege sitzen würde, und, genau wie als Quintaner in Schande traute er sich nicht nach Hause. Damals hatte er beschlossen sich entweder zu Tode zu hungern oder sich mit der Pistole seines Großvaters zu erschießen. Im Jahr 1933 war ihm sofort klar, dass einem Familienvater nicht die Gnade gewährt wurde, sich gegen seine Pflicht zu entscheiden.
8
WIEDERSEHEN MIT BADEN-BADEN
Herbst 1933
Für Fräulein Josepha Krause, die allenfalls Weihnachten Post erhielt und dann ausschließlich Karten mit brennenden Kerzen und Harfe spielenden Engeln, lag Ende Juli 1933 ein Schreiben vom Frankfurter Arbeitsamt im Hausbriefkasten. Die »Antragstellerin« wurde aufgefordert, umgehend »in der Abteilung für Dienstpersonal und unter Vorlage sämtlicher Personalpapiere vorstellig zu werden«. Allerdings war das Wort »Antragstellerin« ersatzlos gestrichen worden, ein Hinweis auf den Umstand, dass das Arbeitsamt noch keine hinreichende Erfahrung mit derartigen Briefen hatte.
Johann Isidor verschob seinen Mittagsschlaf, um seiner aufgeregten Köchin das Schreiben zu erklären. »Sie sollen auf das Arbeitsamt kommen, Josepha. Dort wird man Ihnen sagen, dass es sich für eine deutsche Frau nicht mehr schickt, den Juden ihre Suppe zu kochen. Und sobald Sie bei uns gekündigt haben, wird man Ihnen eine Stelle verschaffen, auf der Sie Ihr täglich Brot auf ehrenvolle Weise verdienen.«
»Was Sie da sagen, verstehe ich auch nicht, Herr Sternberg. Von einer neuen Stelle steht nichts drin.«
»Wie kommst du bloß auf solche Einfälle?«, redete sich Betsy in Zorn. »Das kann doch eine reine Routineangelegenheit sein. Die Nazis stehen halt überall unter dem Zwang, zu zeigen, dass sie die Sache im Griff haben. Es führt doch zu nichts, wenn man immer sofort das Schlechteste annimmt.«
»Meine Liebe, heutzutage führt es auf direktem Weg zur Wahrheit, wenn man das Schlechteste annimmt. Erkundige dich bei Frau Meyerbeer. Ihre Hanna haben sie auch aufs Arbeitsamt bestellt. Sie ist seit vierzig Jahren im Haus und hat’s in den Beinen. Meyerbeers haben sie durch die Lungenentzündung gepflegt, an der sie um ein Haar gestorben wäre, und für ihren unehelichen Sohn hat der gute Adolf das Schulgeld bezahlt, die wiederholten Aufenthalte im Kinderheim an der See, weil der Bub Asthma hatte, und den Konfirmationsanzug, den er eigentlich nicht gebraucht hätte, denn er ist aus der Kirche ausgetreten und in die SA eingetreten. Aber auf dem Arbeitsamt hat Hanna erfahren, dass die Juden ihr Personal bis aufs Blut aussaugen. Man hat ihr eine Stelle als Putzfrau bei einer Kirchengemeinde in Niederrad
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