02 Die Kinder der Rothschildallee
dreiundsiebzig Jahre alt, ein deutscher Baum mit deutschen Wurzeln und einem Sohn, der für das deutsche Vaterland gefallen war. Für dieses Vaterland war der deutsche Patriot Sternberg nun ein »jüdischer Weltverbrecher«. Die neuen Herrscher beschuldigten ihn, er hätte seine »Rassegenossen im Ausland zum Kampf gegen das deutsche Volk« aufgerufen.
Wenn Johann Isidor Sternberg in seiner Posamenterie die Regale inspizierte, war ihm seine Konfession keinen Gedanken wert. Verkaufte er einer Kundin Quasten für ihre Gardinen oder Borte für ihre Tischdecken, war es ihm gleichgültig, ob die Frau evangelisch, katholisch oder jüdisch war. Am 1. April 1933 aber stand der Mann, der nur Deutsch sprechen konnte, Deutsch dachte und Deutsch träumte, auf der Friedberger Landstraße vor einem winzigen Laden und las von »jüdischen Weltverbrechern« und den nötigen«Abwehrreaktionen«.
Die Scham und der Schock machten ihn stumm. Der Mann mit einer Körperlänge von einem Meter sechsundsiebzig und einem Gewicht von zweiundachtzig Kilo wurde zu einem Zwerg, der Gott anflehte, er möge ihn aus seiner Not erretten. Der Himmel aber gab dem Gebrochenen keine Antwort. Die Sonne schien weiter, die Vögel zwitscherten, und Kinder, die an Gott und die Gerechtigkeit glaubten, gingen lachend zur Schule.
Johann Isidor zog seinen Hut tief ins Gesicht. Nichts mehr sehen wollte er und von niemandem gesehen werden. Schutz suchend zog der Wehrlose den Mantel, den er offen getragen hatte, um seinen Körper. Während er sich vor der Welt zu verstecken versuchte, überlegte er, ob das Geschäft mit der Schmähschrift an der Scheibe wohl einem jüdischen Leidensgenossen gehörte. Oder einem Menschen, dessen Konfession den Nazis genehm war und der ihnen lediglich für ihren Hassgesang seine Schaufensterscheiben zur Verfügung gestellt hatte? Vor der Ladentür standen zwei Männer in SA-Uniform. Ihre Schultern waren breit, die geröteten Gesichter ausdruckslos. »Weitergehen!«, befahl der Ältere.
»Zack, zack!«, schnarrte der andere.
Erst als Johann Isidor strauchelte und ein Kind ihm den in Frankfurt beim Stolpern gängigen Spruch »Da liegt ein toter Jud begraben« nachrief, merkte er, dass er gerannt war. Gerannt wie ein Tagedieb, gehetzt wie ein mieser kleiner Ganove, der die Beute nicht rechtzeitig losgeworden ist. Der, der vor Welt und Zeit flüchtete, spürte einen messerscharfen Schmerz, doch er konnte nicht ausmachen, in welchem Teil seines Körpers der Blitz eingeschlagen war. Sobald er ausatmete, keuchte er. Um nicht noch mehr aufzufallen, bemühte er sich, im Tempo derer zu laufen, die frei von Furcht sind. Die Füße ließen sich maßregeln, doch nicht das Herz. Es schlug angstschnell und unregelmäßig.
Der erste Teil der Hasengasse war weniger belebt als sonst. Die Frauen, die gewöhnlich morgens um acht in die Schirn einkaufen gingen, waren nicht da. Nur der Briefträger, eine ältere Frau mit einem kleinen Korb Veilchen und der hinkende Hund vom Schuster in der Fahrgasse waren unterwegs, und wie jeden Tag flogen die Tauben zur Katharinenkirche und kehrten unmittelbar darauf wieder zurück.
»Schaut doch mal!«, rief eine Männerstimme.
In diesem Moment erkannte Johann Isidor seinen gewaltigen Irrtum. Obwohl der Boykott erst ab zehn Uhr angesetzt war, stand bereits eine Traube von Menschen vor seiner Posamenterie und starrte die beiden Schaufenster an. Auf jeder Scheibe waren in weißer Tusche riesige Davidsterne aufgemalt, aus denen Blut tropfte. Rechts von den geschändeten Sternen stand in Riesenlettern »Saujud!«, links baumelten je ein fetter Mann mit Hakennase und schwarzem Hut am Galgen.
Johann Isidor wollte den Kopf abwenden, wenigstens die Augen schließen und die Ohren zustopfen, doch die Galgen ließen seine Flucht nicht zu. Er starrte immerzu die beiden Gehenkten an. Die Worte »Saujud« wurden groß und breit und hoch, die Davidsterne rotierten an einem höllenroten Spieß. War es an dem Gedemütigten, seine Brüder vom Galgen abzuschneiden? Ein Hüne mit Stiernacken und grauer Schiebermütze schob sich nach vorn. Mit einer Hand, die gewaltig war wie ein Dreschflegel, zeigte er auf Johann Isidor. »Da ist er ja, der Itzig«, grölte er. Eine sanftgesichtige junge Frau hob ein etwa dreijähriges Mädchen hoch. Sie sagte: »Schau dir die bösen Männer am Galgen an, Susi. Die haben ihre Mami ganz schrecklich geärgert.« Das Kind klatschte in die Hände, die Umstehenden wieherten, der hinkende Hund wedelte
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