02 Die Kinder der Rothschildallee
angeboten.«
»Das beweist, dass die garstige Gustel keine miese kleine Diebin ist, sondern eine deutsche Bannerträgerin, auf die der Führer stolz sein kann. Die Jungfrau aus Friedberg hat es den Juden nur heimgezahlt, dass sie deren Kindern den Hintern abwischen musste«, mischte sich Erwin ein. »Komm, Josepha, du wirst dich doch nicht von so einem läppischen Brief ins Bockshorn jagen lassen. Das sind doch nur Versuchsballons, um herauszubekommen, wie schnell man die kleinen Leute kirre kriegt. Es gehört sich nicht zu weinen, wenn du mich zur Grünen Soße eingeladen hast und ich mir eigens für dich den Hals gewaschen habe.«
»Ich habe die Soße ja extra für dich gemacht«, stellte Josepha klar. »Wer konnte denn wissen, dass so etwas passiert.«
»Merk dir, ab jetzt kann jeden Tag so etwas passieren. Zu Weihnachten kaufe ich dir Scheuklappen, und Anna strickt dir Ohrenschützer. Die können wir jetzt alle gebrauchen.«
Gustel, der Victoria ihre Kinder anvertraut, nach Salos Geburt das Gehalt erhöht und zu deren Entlastung sie eine Putzfrau engagiert hatte, war am 1. Mai, der nun auf Weisung der Reichsregierung »Tag der nationalen Arbeit« hieß, zu ihren Eltern ins heimatliche Friedberg zurückgekehrt. Für immer. Die Familie Feuereisen, bei der das aufmüpfige Mädchen so widerwillig gearbeitet hatte, hatte sie nicht geräuschlos verlassen. Morgens um halb sieben – Victoria war gerade dabei, Salo zu stillen und ihrer zweieinhalbjährigen Tochter bei Wohlverhalten einen Besuch im Zoo in Aussicht zu stellen – wurde die Wohnungstür mit einem Knall zugeschlagen, der durch das ganze Haus hallte. Den Mieter der darüberliegenden Wohnung veranlasste der Donnerschlag, mit dem Besenstiel auf den Fußboden zu dreschen und »Pack, verdammtes!« zu schreien.
»Gustel ist fortgefliegt«, freute sich Fanny.
Wie sie auf die Idee gekommen war, konnte nicht festgestellt werden. Die Aufregung war zu groß, als dass ihre Eltern die Muße gehabt hätten, sich mit den Phantasien und Wortschöpfungen ihrer begabten kleinen Tochter zu beschäftigen. Auf dem Küchentisch, an die Kaffeekanne vom Rosenthal-Service mit einem Faden gebunden, der sonst für Rindsrouladen und zum Fixieren von Gänseschenkeln benutzt wurde, lag ein Bogen nun nutzlos gewordenes Briefpapier aus der Anwaltskanzlei Doktor Friedrich Feuereisen. Darauf hatte Gustel in Blockbuchstaben mitgeteilt: »Ich arbeite nicht mehr bei Euch Juden.« Statt zu unterschreiben, hatte sie ein riesiges Hakenkreuz gemalt.
Es war Fritz nicht gelungen, seine Frau zu beruhigen. Die Kinder, besonders Fanny, hatten mit ihr geweint. Salo hatte die Brust verweigert, Fritz seine Schwiegermutter zu Hilfe holen müssen. Die resolute Betsy hatte ihm Frühstück gemacht, die Kinder angezogen und sodann den Tränenfluss ihrer laut schluchzenden Tochter abrupt mit der zwar herzlosen, aber sofort wirkenden Bemerkung gestoppt: »Wann geht dir endlich auf, dass du mit deiner gotteslästerlichen Hysterie alles noch viel schlimmer machst, als es ist?«
Im Laufe des Tages hatten Victoria und Betsy entdeckt, dass Gustel einen großen Teil des Familiensilbers mitgenommen hatte, außerdem Fritzens vom Vater geerbten Siegelring und Victorias goldenes Collier mit dem wertvollen Smaragdanhänger, das Hochzeitsgeschenk ihrer Schwiegermutter. Fritz, obwohl von seiner Frau als Zauderer beschimpft, der nicht genug Mumm hätte, für »sein Recht zu kämpfen«, weigerte sich, Anzeige zu erstatten.
»Ein gelöschter jüdischer Anwalt hat nicht die Bohne einer Chance, gegen ein rassereines deutsches Dienstmädchen recht zu bekommen«, erklärte er sowohl seiner Frau als auch der übrigen Familie. »Sie braucht bei Gericht nur zu behaupten, ich hätte ihr unter den Rock gegriffen. Dann geht sie hoch erhobenen Kopfes aus dem Gerichtssaal und ich mit gefesselten Händen ins Gefängnis. In München haben sie einen Rechtsanwalt, der sich über die sogenannte Schutzhaft seines Mandanten beschwerte, mit abgeschnittenen Hosenbeinen barfuß durch die Stadt getrieben. Um den Hals haben sie ihm ein Schild mit der Aufschrift gehängt: ›Ich werde mich nie wieder beschweren.‹ Ein ehemaliger Kollege aus München hat’s mir erzählt.«
Vier Tage nach Erhalt der Aufforderung vorzusprechen, machte sich Josepha zum Arbeitsamt auf. Zu Hause erklärte sie, sie ginge zum »Fußdoktor wegen meinem kaputten Knie«, was Betsy insofern verwunderte, weil ihre Köchin alle Ärzte – mit Ausnahme von Doktor
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