Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
02 - Die ungleichen Schwestern

02 - Die ungleichen Schwestern

Titel: 02 - Die ungleichen Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Chesney
Vom Netzwerk:
Sämtliche Korridore, Salons, Schlafzimmer und Schränke waren
geschmückt, und an allen Ecken und Enden gab es zur Freude der Gäste
Überraschungen: einen Vogelkäfig; eine lebensgroße Puppe in einer Gartenlaube;
Wasser, das über bemooste Steine in ein efeuüberwuchertes Bassin tröpfelte;
eine Schäferin in weißem Musselinkleid mit Kränzchen und Hirtenstab, die
Eiscreme anbot; einen Burschen vom schottischen Hochland im Kilt, der Limonade
offerierte; einen Amor mit Kuchen; eine Zigeunerin mit Obst und viele andere
raffinierte Einfälle, die zusammen eine Art Irrgarten bildeten. Das Ganze
nannte sich Arkadisches Schäferfest, und die elegante Welt war so hingerissen, dass
ein paar besonders geistreiche Männer bereits in irgendwelchen Ecken saßen und
zu Ehren des Abends Verse schmiedeten.
    Jane
entfernte sich von ihrer Mutter und Euphemia und fragte mehrere Leute, ob Miss
Lucas unter den Gästen sei. Schließlich sagte ihr eine Debütantin, sie habe Miss
Lucas gerade hereinkommen sehen, und Jane machte sich wieder auf den Weg durch
den Irrgarten von kleinen Zimmern und Korridoren zurück zur Wohnungstür. Nachdem
sie noch ein paarmal gefragt hatte, stand sie endlich Miss Petronella Lucas
gegenüber. Miss Lucas hatte ein langes Pferdegesicht und trug ein allzu
jugendliches Kleid aus weißem Musselin mit pinkfarbenen Rosen, das die Fahlheit
ihrer Haut unterstrich.
    Nicht
daran gewöhnt, Fremde ohne eine förmliche Vorstellung anzusprechen, und voller
Angst, womöglich wieder Anstoß zu erregen, sagte Jane schüchtern, dass sie in
der Clarges Street Nr. 67 wohne und erst kürzlich erfahren habe, dass Miss
Lucas eine Freundin der verstorbenen Clara Vere-Baxton gewesen sei.
    »Meine
arme Clara«, rief Miss Lucas nach Atem ringend aus. »Wie ich sie vermisse!
Kommen Sie mit. Ich möchte so gerne mit Ihnen über sie sprechen. Ich habe
seitdem nie mehr eine solche Freundin gehabt.«
    Sie zog
Jane in eine Gartenlaube, in der eine Bank stand. Die beiden Damen setzten
sich. Miss Lucas begann zu reden ... und zu reden. Jane hörte mit wachsender
Enttäuschung zu. Wenn man Miss Lucas glauben durfte, war sie, Miss Lucas, die
Schönheit der Saison gewesen und deshalb die Vertraute und Ratgeberin der
weniger vom Schicksal begünstigten Clara. Die Aufzählung von Miss Lucas'
Tugenden ging unaufhörlich weiter.
    Die
Leute, die vor oder hinter der Laube vorbeigingen, waren wie Scheinen in einem
Wald, und Jane überlegte krampfhaft, wie sie entrinnen könnte. Miss Lucas war
ganz Augen und Zähne, und Jane fühlte sich in der Falle wie jener unselige
Hochzeitsgast, den der »Alte Seefahrer« in der gleichnamigen Ballade zwingt,
seine Geschichte anzuhören.
    Als Miss
Lucas schließlich eine Pause einlegte, um Luft zu schöpfen, sagte Jane: »Aber
hatte Miss Vere-Baxton vielleicht noch einen anderen Verehrer als Mr.
Bullfinch?«
    »Nun,
was das betrifft«, sagte Miss Lucas und legte ausgesprochen vulgär ihren Finger
an die Nasenwand, »so hat mir Clara im Vertrauen gesagt, dass . .. ach, mein
Fächer ist mir runtergefallen.«
    »Ich
glaube, er ist unter die Bank gefallen«, sagte Jane und stand auf. Sie beugte
sich über Miss Lucas, um nachzusehen, ob der Fächer auf die andere Seite der
Bank gefallen war, als sie etwas veranlasste, sich umzudrehen und über die
Schulter zurückzuschauen. Eine Hand, eine weiße Hand mit einem großen Muttermal
tauchte in dem Gebüsch hinter der Bank auf. Die Hand hielt einen Dolch
umklammert und stieß diesen in eindeutig böser Absicht genau dahin, wo Janes
Rücken gewesen wäre, wenn sie nicht aufgestanden wäre.
    Jane
schrie und schrie.
    Miss
Lucas, die nicht wußte, was geschehen war, aber das Gefühl hatte, dass Jane sie
an Theatralik übertraf, begann ebenfalls zu schreien, und sie waren auf der
Stelle von besorgten Gesichtern umgeben.
    Atemlos
erzählte Jane, was passiert war. Zunächst waren alle schockiert und
fassungslos, aber dann begannen einige Herren zu lachen und meinten, ohne
Zweifel gehöre auch das zu Grace Baillies Unterhaltungen.
    Mrs.
Baillie wurde daraufhin angesprochen. Obwohl sie nichts davon wußte, erfasste
sie schnell, dass eine geheimnisvolle Hand mit einem Dolch dazu angetan war,
ihrem Fest eine hochwillkommene schaurig-romantische Note zu geben, und
ihren Ruf als Gastgeberin nur verbessern konnte. Zu ihrer Rechtfertigung muss
gesagt werden, dass Miss Lucas' Verhalten Mrs. Baillie überzeugt hatte, dass
die beiden Mädchen in wilden Phantasien schwelgten. Deshalb gab

Weitere Kostenlose Bücher